Fünf Tage Larissa: Aus- und Irrwege aus der Flut

13. September, Larissa

So schnell wird wohl kein Weg hinaus führen. Es ist aber gut, dass wir in Larissa sind – in den abgeschnittenen Orten wie Agia und Umgebung in Mavrovouni werden die Lebensmittel knapp. Auch in Larissa schnellen die Preise, insbesondere für Milch und frisches Gemüse, in die Höhe. Die Lieferketten sind unterbrochen, und schlimmer noch: die Gemüsefelder sind überschwemmt oder zerstört. Das Kilo Tomaten kostet weit über zwei Euro, ein Bund Petersilie wird mit 1,50 € gehandelt. Das Trinkwasser funktioniert, es ist sauber, wie die örtlichen Behörden immer wieder versichern – doch über die privaten Fernsehkanäle wird das Gegenteil behauptet : das fördert den Absatz an Einwegwasserflaschen. Die bekommt man, wie an erfährt, in den abgetrennten Ortschaften wie Agia und Agiokampos schon gar nicht mehr.


Mittlerweile hat man sich an das Alltagsleben in Larissa gewöhnt, die Hoffnung, dass die Straße nach Osten wieder frei wird, ist gedämpft. Die Informationen sind zwar wirr, denn es gibt keine verlässliche Nachrichtenseite im Netz, alles basiert auf Gerüchten, die über Social Media und besonders über Hörensagen über Telefon verbreitet werden (In Larissa sind mehrere Online-Nachrichten-Plattformen aktiv – aber sie sind in erster Linie mit Werbung zugepflastert, und die Nachrichten sind – offenbar von halb-privaten verfasst – nicht immer zuverlässig. Nach dem klassischen griechischen Frühstück (Toast, Frappe) suchen wir einen Weg auf den südlichen Teil des Pilion. Hierher sind die Wege frei. In Ano Lechonia gibt es den Bahnhof der noch als Museumsbahn betriebene Teilstrecke der Schmalspurbahn Volos-Milies. An Wochenenden kann man hier tatsächlich noch Fahrten mit den restaurierten Zug aus der Zeit der Jahrhundertwende buchen. Heute ist aber kein Betrieb.

Die verfluchte Villa von Ano Lechonia

Hier stoßen wir auf eine vefrfallene Villa – sie ist legendär und von finsteren Sagen – und wahren, traurigen historischen Ereignissen – umwoben.

Entworfen wurde die Villa im Stil der französischen (Neo)-Renaissance von einem gewissen Evaristo de Chirico. Der Italiener war unter anderem mit der Planung der griechischen Eisenbahnen der Region beschäftigt, nebenbei baute er Villen für Wohlhabende. Den Namen de Chirico schon mal gehört? Richtig. Der Sohn des Architekten war der bekannte durrealistische Maler Giorgio De Chirico (*1888 in Volos, + 1978 in Rom). Vollendet wurde das Haus kurz vor 1900. Die erste Familie, die sich im Haus niederließ, war die Familie Kontos, Gerüchten zufolge begann es im Haus zu spuken, nachdem eine „giftige“ Eidechse in die Milchkaraffe gefallen war und die drei Kinder der Familie getötet hatte. Andere Legenden berichten von Tuberkulose oder Syphilis, die die Kinder dahin gerafft haben soll.

Auch nach dem Auszug der Familie ging der Schrecken, den das Haus verbreitete, weiter:  Während der deutschen Besatzungszeit diente das Gebäude als Hauptquartier der Gestapo. Hier wurde gefoltert und gemordet.. Die letzten Opfer der Gestapo waren zwei Bewohner, die im Dienst der Gestapo gestanden hatten.

1985 wurde das Gebäude von der Gemeinde erworben, mit dem Ziel, hier ein Kulturzentrum einzurichten. Es fand eine Ausschreibung statt, es gab einen Architektenentwurf mit ausführlichen Ausführplanungen. Der Architekt verstarb jedoch, bevor die Pläne eingereicht werden konnten. Man fand einen zweiten Architekten, der die Planungen übernehmen und einreichen sollte – auch er verstarb. Heute ist das Haus nach wie vor eine Ruine. Wahrscheinlich wird ein dritter Projektleiter kaum zu finden sein.

Zurück in Larissa, versuchen wir den Wasserstand an der Ausfallstraße nach Agia zu erkunden. Die alte Brücke über dem Hauptarm des Pinios-Abflusses ist nicht mehr überspült, vier Meter unter ihr strudelt das Wasser des Pinios und von den umliegenden Feldern in Richtung Karla-See.. Das gibt Hoffnung – wenn der Wasserstand hier so weit gesunken ist, müsste doch der Rest des Weges auch frei sein. Ist er aber nicht. Zwischen den Dörfern Elefterio und Gerakari verliert sich die Straße in einer Wasserfläche, eine Polizeisperre steht davor. Wir fragen die Polizisten, ob sie eine Ahnung haben, was weiter passieren wird, und ob sie irgendwelche Umleitungen empfehlen können.. Sie wissen es nicht, niemand weiß irgend etwas – denn eine solche Katastrophe dieses Ausmaßes hat hier seit Menschengedenken nicht stattgefunden. Vielleicht morgen, vielleicht nächste Woche – und vielleicht steigt das Wasser sogar, weil der Karla-See irgendwann voll sei, meinen die Polizisten.

Im „Chalero Kafeneio“ in Larissa

Abends auf dem Balkon – wir sind eigentlich fertig für die Nacht – dringen fröhliche Gesänge unten von der Straße herauf. Es ist schon ziemlich spät in dem Wohnviertel. Aber man kann ja mal sehen, was da gefeiert wird. Im „Chalaro Kafeneion“ (entspanntes Kaffeehaus) einem von Studenten betrieben kleinen Cafe von vielleicht vier Meter Breite und zwanzig Meter Länge, spielt eine improvisierte Laiengruppe traditionelle Rebetika. mit Bousouki und Gitarre. Der Gesang ist sicher verbesserungswürdig – doch der Spaß ist um so größer. Wir bleiben bis Nachts um drei.

14. September: Zoologische Entdeckungen im Überschwemmungsgebiet

Ein weiter Ausbruchversuch am folgenden Tag führt zunächst wieder in Richtung Elefterio. Hier gibt es Feldwege, die etwas erhöht auf einem Damm liegen und nach Sykourio führen, von wo wir uns einen Weg über die Hänge des Ossa nach Agia erhoffen. Auch hier ist nach wenigen Kilometern Schluss.. Über die teils weggerissene Straße springen Fische, manche von ihnen – es sind offenbar junge Forellen – schaffen es tatsächlich, den halben Meter Höhenunterschied des Wasserfalls am Straßenrand zu überspringen und weiter über die Straße hinweg auf die andere Seite zu zappeln.

In einem kleinen Canyon, den die Fluten in die Tomatenfelder gerissen haben, tummeln sich ansehnliche Exemplare von Sumpfschildkröten.

Ein anderer Ausbruchversuch führt nach dem hässlichen Dorf mit dem vielversprechenden Namen „Omorphochori“ (schönes Dorf). Der Ort ist einer der hässlichsten der Gegend, auch hier endet die Straße im Wasser. Zudem versperrt ein von der Flut fortgespülter LKW den Weg.

Auch wenn es zunächst den Anschein hat, wenigstens die Stadt Larissa sei mit dem Schlimmsten davon gekommen – das stimmt nicht. Auf dem Rückweg gelangen wir in das Viertel „Ajos Thomas“. Hier standen die Häuser bis zu zwei Geschossen im Wasser. Die Flut ist hier zurückgegangen, Bulldozer schieben Hausrat, Lehm und Trümmer auf LKW, es riecht bestialisch nach faulem Hochwasser, ein gruseliger Ort. Zwei Streifenwagenbesatzungen nehmen gerade den Fahrer eines Pickups fest wegen des Verdachts der Plünderei.

15. September

Das Ende des Urlaubs naht, die Hoffnung schwindet schon langsam, unseren Ferienort zu erreichen, um wenigstens an die Koffer mit den Flugkarten zu gelangen.. Wir rufen die „100“ an, die Informationszentrale der Polizei. Eigentlich wissen die selten etwas, es geht aber tatsächlich jemand ans Telefon. Der Polizist am Telefon meint, die Straße sei immer noch nicht frei. Wir entgegnen, wir hätten gestern Nacht erfahren, dass Fahrzeuge durchgelassen worden seien. Man erklärt uns, das liege in der Verantwortung des Polizeibeamten vor Ort, man würde den Kollegen aber nicht empfehlen, jemanden durchzulassen. Wieder fahren wir hin. Vor uns eine Polizeistreife und ein ca. 600 Meter langes Stück Straße, etwa 40 cm mit Wasser bedeckt. Die Polizisten schauen weg, als einige Leute – auch wir – durchfahren. Immer noch strömt das Wasser hier Richtung Karla See, auch hier hüpfen die Fische über den Weg. Mehrere Lastwagen passieren die Furt Richtung Agia – es wird höchste Zeit. Denn die Lebensmittelvorräte der Kleinstadt und den umliegenden Dörfern sind am Ende.


Kurz vor Agia biegen wir ab, auf einem höher gelegene Weg, der entlang des alten Karla-Sees führt. Bei dem Ort Kalamaki biegen wir ab Richtung Elafos um den Bergkamm Mavrovouni zu überqueren. Von hier oben breitet sich ein beeindruckendes Panorama aus: Von Süd nach Nord, soweit das Auge reicht, erstreckt sich der in der Abendsonne silbrig glänzende, wiedererstandene Karla-See, in der Ausdehnung, wie ihn die antiken Schriftsteller beschrieben haben.



Im Supermarkt in Agia werden Abends kurz vor acht Uhr eilig die Regale wieder aufgefüllt. Eifrige Angestellte ziehen palettenweise Wasserkisten, Käse, Brot, Obst und Gemüse in den Laden, Die teils noch ausgiebigen Lücken in den Regalen zeigen, woran es gefehlt hatte: neben Getränken vor allem Grundnahrungsmittel wie Brot und Nudeln und Milchprodukte.

Das Meer von Agiocampos ist ruhig wie ein See, das graublaue Wasser lädt zum Baden ein. Aber niemand geht hinein. Die Vorstellung, welcher Unrat über die Flüsse und die gebrochene Kanalisation hier ins Meer gespült wurde, nötigt gehörigen Respekt ab.

Schematische Sicht übver das Hochwassergescheben September 2023: Blaue Pfeile: Nach den Regengüssen 7.-9- Septe,mber rauscht das Wasser zuächt in hoher Geschwindigkeit die Berghänge hinunter und überflutet einzelne Ortschaften und Felder. Erst dan schwillt der Pinios an (grüner Pfeil) und überflutet die an seinem Ufer liegenden Stadtteile und Dörfer. Er staut sich am Tempi-Tal, die Wassermassen fließen dann südostwärts und lassen den Karla-See neu entstehen (roter Pfeil.)

Diese Schilderung erghebt keinerlei Anspruch irgendwelcher Objektivität – es sind subjektive Erlebnisberichte aus dem Winkel eines Halleschen Reisenden. Eine obketivere Darstellung dieser Katastrophe geradezu historischen Ausmaßes findet man beispielsweise hier sowie in den einschlägigen Medienberichten.

Nach dem Regen: erst jetzt kommt die wirkliche Flut

8. September

Auf dem Weg von Agiokampos an der Küste kündigt sich das bevorstehende Drama an. Die in den letzten drei Tagen niedergegangenen Wassermassen bahnen sich ihren Weg über die Chimari (Winterflüsse, im Sommer ausgetrocknete Flussbetten) nicht nur Richtung Meer – sie wälzen sich in das Landesinnere. Im Fernsehen werden Bilder der Schlammfluten gezeigt, die sich vom Pilion ihren Weg durch die an seinem Fuß liegende Hafenstadt Volos bahnen. Volos hat kein Trinkwasser, keine Elektrizität. Das Wasser, das sich in den Ebene um Karditsa und Larissa versammelt hat, kennt ab jetzt nur einen Weg: hinein in den Fluss Pinios, der von hier in Richtung Stomio ins Meer verläuft. Dazu muss das Wasser die Engstelle der Tempi – Schlucht passieren – zuvor staut es sich auf. Die größte Stadt an seinem Ufer ist Larissa. Der Pegel steigt hier rasch an, erste, niedrig gelegene Stadtteile werden überschwemmt.. In der Stadt fällt der Strom zeitweise aus, der Zusammenbruch der Trinkwasserversorgung droht. Aus Sorge um die Verwandtschaft fahren wir dorthin – auch wenn ihr Stadtviertel selbst nicht bedroht ist. Die Idee: wir könnten sie vielleicht auch zu uns holen, wenn in Larissa die Lichter ausgehen. Sowohl Strom und Wasserversorgung funktionieren wieder, als wir am späten Nachmittag ankommen. Das Briefmarkenfernsehn läuft ständig, dramatische Meldungen kommen von den umliegenden Dörfern, die sowohl infolge der primären Niederschläge, nun aber auch durch den Anstieg des Flusses unter Wasser stehen. Bilder von Häusern auf dem flachen Lande, die bis zum Dach unter Wasser stehen. Es gibt wenig Informationen, wo sich welche Wassermassen bewegen, dafür aber unzählige dramatisch inszenierte Einzelfallschilderungen, wobei hier besonders der Privatsender Mega unangenehm auffällt. Wir treffen uns in der Nachbarschaft mit Freunden, die Innenstadt wirkt seltsam entspannt, die Leute gehen an diesem Freitag Abend ihren gewohnten Freizeitbeschäftigungen nach: Ausgehen, Flanieren, als wäre nichts. Es gibt Warnungen, der Fluss könne die Marke 9,50 m übersteigen. Nachts gehen wir zu Fuß in die Viertel am Ufer des Pinios, um die Lage zu checken. In einigen Vierteln ist das Wasser gestiegen, Sandsäcke liegen vor den Eingängen, das Wasser schein jedoch zu verharren und fällt hier auch am nächsten Tag schon wieder.. Man hört keine Polizeisirenen, langsam fahren Feuerwehrfahrzeuge durch die Straßen, sonst nichts. Ein erstaunlicher Kontrast zu der Hochwassersituation, wie man sie von Halle 2013 kennt. Die Stimmung wirkt unaufgeregt und relativ entspannt. Der Eindruck täuscht: Aus den Nachrichten ist zu erfahren, dass die dem Fluss gegenüberliegende benachbarte Kleinstadt Janouli, die anders als Larissa nicht durch Deiche und ein in den 1990er Jahren errichtetes System aus Umflusskanälen und Dämmen geschützt ist, voll Wasser läuft. Viele Bewohner können die überwiegend mehrstöckigen Wohnhäuser nicht verlassen.

Samstag, 9. September

Wir sind in Larissa geblieben. Seit Morgenanbruch donnern unaufhörlich tonnenschwere Militärhubschrauber über der Stadt. Man versucht, vom Hochwasser eingeschlossene Menschen per Seilwinde von den Dächern zu retten. Kamerateams von Mega-TV und anderen Privatsendern haben sich in die Hubschrauber gedrängt, sie filmen hautnah, wie alte Leute mit Seilwinden an Bord der Militärmaschinen gezerrt werden. Verpixelt wird wenig. Beliebt sind auch Aufnahmen, wie Kamerateams die Bewohner überschwemmter Wohnungen „besuchen“, ihnen das Mikrofon unter die Nase halten. Weinende, verzweifelte Menschen bringen Klicks und Quote. In Dauerschleife werden solche Aufnahmen den ganzen Tag wiederholt, kommentiert von sich ins Wort fallenden, aufgeregt schreienden Moderatorinnen und Journalisten. Fakten erfährt man wenig. Der Leiter der Katastrophenschutzbehörde will ein paar Zusammenhänge erläutern – die keifenden Moderatorinnen fallen ihm ins Wort, es gelingt ihm nicht, Wesentliches rüberzubringen.

Auch an diesem Samstag Abend wirkt das Leben im Stadtzentrum von Larissa entspannt. Wir treffen uns mit Freunden in einem Viertel am „Frurio“ (Kastell) die Tavernen sind voll, heiteres Leben. Wir erfahren, dass Freunde (deren Haus auf Platykampos vom Dach her geflutet war, schon mit der ersten Hochwasserwelle vorübergehend eingeschlossen waren, und gerade das Haus notdürftig gereinigt hatten), über die Warn-App „112“ vor einer neuen Hochwasserwelle gewarnt wurden . Sie sollten sich, wie die Bewohner einiger anderer Ortschaften, zur Evakuierung bereit halten. Nun sind sie auch hier in Larissa. Und wir erfahren, dass wir nicht zurück an die Küste nach Agiokampos können – die Verbindungsstraße zwischen Elefterio und Jerakari sei überschwemmt. Huch! Wie kann das sein? Zwei Tage nach Ende der Regenfälle haben nämlich die Wassermasse des Pinios, der sich an der Tempi-Schlucht staute, ihren bis zur Trockenlegung des Karla-Sees bestehenden natürlichen Ausweg gefunden:: östlich von Larissa strömt das Wasser nun zwischen den beiden genannten Orten in Richtung Südosten und ergießt sich über die Felder hinein in das ehemalige Seengebiet. Dort steigt das Wasser nun an, überschwemmt nicht nur wertvolles Ackerland, sondern auch Häuser und Dörfer, die nach der Trockenlegung des Sees hier entstanden sind (Mehr zu diesem See und seiner langen Umweltgeschichte gibt es hier). Auch die Autobahn nach Thessaloniki wird überspült. Wir sind in Larissa „gefangen“. Was wir nicht wissen: Der Zustand wird nun fast eine Woche anhalten. Lediglich der Weg Richtung Athen ist wieder frei, wo wir aber nicht hin wollen. Auch Larissa ist eine schöne Stadt, aber hier haben wir den Urlaub nicht geplant.
In den folgenden Tagen versuchen wir täglich, irgendwelche „Ausbruchswege“ gen Osten in die Berge von Mavrovouni zu finden, lernen dabei lauter mögliche Umwege kennen – und landen ständig irgendwann vor Polizeisperren oder einfach überfluten Straßen und Feldwegen.

Larissa / Volos, 10. September

Hinter der Brücke nach Janouli hat sich eine Menschentraube vor einer Polizeiabsperrung gebildet. Viele Einwohner wollen aus unterschiedlichen Gründen hinüber. Zu den Häusern und ihren Bewohnern führt nur eine vom Katastrophenschutz eingerichtete Schlauchbootverbindung. Viele wollen trotzdem rüber. Berechtigt sind nur betroffene Anwohner, die dies – z.B. über eine gemeldete Adresse – auch nachweisen können. Das sehen viele nicht ein, die „nur mal dort nach Ihren Freunden sehen wollen“. Es gibt immer wieder Disput, Polzisten werden angeschrien und teils beleidigt.

11. September

Tatsächlich ist nicht nur die Autobahnverbindung, sondern auch die alte Landstraße kurz hinter Larissa in Richtung Tempi und Thessaloniki überschwemmt. Am Straßenrand unzählige überflutete Fabriken, umgestürzte Bienenstöcke schwimmen im Wasser, die Tiere schwirren orientierungslos in der Luft herum.

12. September


Man kann allerdings – erstaunlicherweise – über die Umgehungsstraße nach Volos den Pilion erreichen – immerhin, ein Versuch ist es wert. Über die Autobahn nach Athen – die mittlerweile von den Resten der Flut notdürftig gereinigt wurde, erreichgt man die Umgehungsstraße von Volos, und fast wie gewohnt kann man sich von hier über Ano Volos und Portaria bis in die Höhe von Chania empor schrauben. Wenige Tage zuvor hatte das Fernsehn über ausgewählte Bilder vermittelt, die Infrastruktur des Pilion sei nahezu komplett zerstört – eingestürzte Brücken, weggerissene Häuser. Bei Ano Volos ist tatsächlich ein Teil der Straße von den herabstürzenden Wassermassen eines dortigen Wasserlaufs eingestürzt. Lastwagen bringen vom nahegelegenen Steinbruch gerade fuhrenweise Felsbrocken heran, um die Schäden zu beseitigen. Der Chimaros hat tatschlich eine Schneise der Zerstörung hinterlassen, zwei ganze Häuser sind weggerissen, ein halbierter Lastwagen liegt in der Schlucht. Es sind genau die Bilder, die ständig vom Fernsehen in Dauerschleife gezeigt wurden. Im weiteren Verlauf der Straße nach oben sieht man, dass das Hochwasser vor allem Schäden in der Ebene hinterlassen hat – die Bergdörfer haben – mit Ausnahme der Häuser, die zu nah an den Wasserläufen gebaut wurden, keine Schäden. Vor Chania halten wir an dem „Bio-Laden“ an, wo man Honig, Kräuter usw. kaufen kann. Die junge patente Ladenbesitzerin kenne wir schon, wir unterhalten uns. Sie findet, die Schäden auf dem Pilion seien überdramatisiert. Ihnen ist nichts Nennenswertes passiert, das Wasser fließe so schnell wieder ab, wie es gekommen sei. Nur einige Bergstraßen hätten Schaden genommen. Leider höre die Politik nicht auf die Warnungen, sowohl, was den Klimaschutz betrifft, als auch die örtliche Hochwasser- und Katastrophenvorsorge, das Wahlverhalten mancher Leute sei halt dumm usw.

Auf dem Weg zurück gerät man durch Volos. Die Wasser- und Schlamm-Massen haben ihre Spuren hinterlassen. Es bietet sich ein surreales Bild. Wo zwei Tage zuvor sich meterhohe Schlammlawinen durch die Straßen gewälzt hatten, und wo man sah, wie hoch das Wasser in den Wohn – und Geschäftsstraßen stand – läuft das Leben schon wieder fast wie gewohnt. Autos wirbeln den zu Staub getrockneten Schlamm zu dichten Wolken auf. Fast alle Geschäfte sind wieder gesäubert, sind geöffnet und die Kunden gehen ein und aus. Es sieht aus, wie zwei Tage nach Schneefall in einer deutschen mittelgroßen Stadt, nur dass die säuberlich am Straßenrand aufgeschichteten Haufen aus Schlamm, und nicht aus Schneematsch bestehen. Auf den Bürgersteigen haben die Ladenbesitzer mit der Kehrschaufel Trittpfade freigeschaufelt. Am vor zwei Tagen völlig überfluteten Hafen haben die Cafes wieder geöffnet – alles so wie immer, wie es scheint.

Zerstörungen am Rand des Chimaros in Ano Volos, Volos am 12. September vom Pilion aus gesehen

Fortsetzung: Fünf Tage Larissa – das war nicht geplant

Die Flut in Thessalien

4.-7. September 2023

Auf der Hinfahrt von Athen nach Larissa kommen wir an vielen verbrannten Bergen und Landschaften vorbei, und kurz vor Beginn der Thessalischen Ebene verdunkeln Rauchschwaden die Sonne – einer der letzten noch aktiven Waldbrände, irgendwo westlich der Ortschaft Almyros.

30. August: Rauchschwaden eines Waldbrandes westlich von Almiros (Thessalien) verdunkeln die Sonne

Am Donnertag, den 31. August saßen wir endlich im Garten unserer Freunde in Platykampos, einem – der Name sagt es schon – Ort in der flachen Ebene zwischen Larissa und Aghia, von wo wir dann weiter nach Aghiokampos fahren wollen. Die Freunde haben hier ein wunderbares zweistöckiges Haus in einen idyllischen Blumen- und Gemüsegarten gesetzt, wo sie vieles ihres täglichen Bedarfes anbauen. Es ist zu recht ihr Stolz. Hier wachsen Auberginen, Feigen, Riesentomaten, Melonen, Kürbisse, aber auch Wein und solche Banalitäten wie Kohl. Wir fachsimpeln über das Wetter. Beide sind nicht besonders glücklich über den Zustand des Gartens. Die ständigen, heißen und trockenen Winde haben vieles verdorren lassen. Meltemi heißt dieser heiße Wind. Heute ist die Luft schwül, und wir mutmaßen, dass es ja eine Chance auf Regen geben könne. Ja, das habe sie schon im Wetterbericht vernommen – aber sie glaube es nicht, sagt unsere Freundin.

Wir verabreden uns für den Samstag zum Krabbenfischen, und am Sonntag verbringen wir gemeinsam einen Tag am Strand und essen Fisch in einer Taverne in Aghiokampos.. Es ist warm, und von der Ferne dröhnt unglaublich laute Musik – das „Abschlusskonzert“ einer Strandbar, die Nachts nochmal richtig aufdreht, denn die Saison ist endgültig zu Ende. Montag früh fahren unsere Freunde wieder zurück nach Platykampos. Noch ahnte niemand, was nun kommen würde – wenngleich die Nachrichtensender für Montagabend vor Unwetter mit Starkregen und utopisch anmutenden Niederschlagsmengen für die kommenden Tage warnen. Man spricht von bis zu 2000 Litern Niederschlag in den kommenden Tagen pro Quadratmeter – was niemand glaubt (das ist eine zwei Meter hohe Schicht Wasser !). Das wäre die etwa 4-5-fache Menge eines durchschnittlichen Niederschlags in Griechenland pro Jahr.

Montagmorgen ist die Saison am Strand tatsächlich zu Ende – es hat in der Nacht leicht geregnet, Pfützen haben sich am Strand gebildet, aber der Himmel ist wieder klar. Es liegt eine merkwürdige Schwüle in der Luft. Abermals warnen die Nachrichten vor Regengüssen katastrophalen Ausmaßes. Gegen Abend werden die Wolken dichter, es donnert, und plötzlich prasselt ein Regen herunter, den die Welt noch nicht gesehen hat. Wir jedenfalls nicht. Es kracht und donnert, und vor allem fegt ein kräftiger Sturm den Regen fast waagerecht über die Straße – von der so wenig wie vom Strand noch irgend etwas zu sehen ist.


Beeindruckt – und nun auch etwas besorgt – gehen wir schlafen – versuchen es zumindest. Der Wind rüttelt am Haus, und ich wache morgens von einem merkwürdigen Gequäke auf – es ist die Alarmanlage des Autos, wohl von dem Unwetter ausgelöst. Ob es die kräftigen Donnerschläge oder die Windböen waren, – keine Ahnung. Jetzt hat sich das griechische Katwarn gemeldet und warnt vor Überflutungen im ganzen Land. Die Unwetter haben sich über genau unsere Region ergossen – man spricht an diesem Tag von über 700-800 Litern.

Erst langsam kommen die ersten Katastrophenmeldungen. Wir gehen raus, wollen sehen, was die Chimaroi machen. Ein Chimaros ist ein Trockental oder ausgetrocknetes Flussbett von oft beeindruckender Breite, und noch nie haben wir einen fließen gesehen, wir kennen sie immer nur trocken, mit vielen großen, rundgeschliffenen Felsen darin. Im Winter wenn es mehr regnet,, führen sie Wasser, daher auch der Name (Chimonas=Winter, Chimaros – Winterfluss). In einem Kilometer Entfernung steht die etwas übertriebene Brückenkonstruktion (nach einem spanischen Architekten, der für diese Konstruktionen bekannt ist, von den Einheimischen hier spöttisch „Kalatrava-Brücke“ genannt). Mit donnerndem Getöse rauschen die gelben Wassermassen nicht nur durch die Brücke, sondern auch an ihr vorbei, die halbe Straße haben sie bereits weggerissen, es droht immer mehr nachzustürzen. Durch den Supermarkt neben der Brücke hat sich das schmutzige Wasser ebenfalls einen Weg gebahnt, die Ladenbesitzer sind verzweifelt und versuchen zu retten, was zu retten geht.

Langsam lässt der Regen etwas nach, man hört, dass die Straßen von Volos überschwemmt sind, der nächst größeren Stadt 50 km weiter südlich. In den Fernsehaufnahme wird der Bürgermeister gezeigt, wie er verzweifelt auf Autofahrer einredet, ihren Wagen stehen zu lassen, und nicht durch die Fluten zu fahren. Vergeblich. Man sieht verzweifelte Fahrer, das griechische Katastrophenfernsehn berichtet rund um die Uhr, zeigt immer wieder die selben schockierenden Bilder in Dauerschleife, in Briefmarken großen Fensterchen versuchen aufgeregte Fernsehjournalistinnen gleichzeitig Bürgermeister, Feuerwehrleute und Betroffene zu „interviewen“, am meisten hören sie sich selbst reden, und fallen den Befragten ins Wort. Das ist nichts besonderes, sondern griechisches Fernsehen. Hier geht es aber nicht um irgend einen Nachbarschaftsstreit, sondern eine Katastrophe, die sich in den folgenden Stunden und Tagen noch entwickeln wird.

Am Strand schieben die Wogen weißlich-gelbe Schaumteppiche vor sich her. Der Wind treibt sie rollend wie Schäfchen über den Strand, wo sie knisternd zerfallen und einen braunen Schmier hinterlassen. Der Schaum ist ein Ergebnis von Algenblüte und den Schlammmassen, die von Land ins Meer strömen.

Die Erleichterung war zu früh. Am Abend des Folgetages türmen sich abermals schwarze Wolken über den Bergen von Mavrovouni auf. Nun scheint sich der Regen voll auf die Ebene um Larissa, aber auch auf Karditsa und umliegende Dörfer zu konzentrieren. Man sieht im Fernseher, wie Dörfer der Ebenen im Schlamm versinken, Häuser bis zum Dach im Waser stehen. Die Telefonleitungen nach Larissa sind gekappt, unsere Verwandschaft erreichen wir noch auf dem Handy. Sorge um unsere Freunde in Platykampos – denn der Ort liegt gefährlich in der Ebene, außerdem gibt es dort Kanäle, die vom Fluss Pinios zum Limni Karla führen. Wir erreichen unsere Freunde nicht, irgendwann bekommen wir sie doch auf dem Handy. Sie sind überschwemmt, im Haus steht eine Hand breit Wasser, das aber nicht vom Fluss gekommen ist, sondern von der Dachrinne, die dummerweise mit der Küche verbunden war. Im Garten steht das Wasser kniehoch, versunkenes Paradies. Morgen werden wir versuchen, zu unseren Freunden zu fahren, wenn das Wasser abgelaufen ist.

Wir waren nochmal an der Kalatrava-Brücke. In der Nacht ist der Fluss wiedergekommen. Er hat die Straße jetzt komplett weggerissen, und leider ist er wieder durch den Supermarkt gelaufen, den die Besitzer tags zuvor wieder geputzt und mit neuen Waren gefüllt hatten. Ihnen standen die Tränen in den Augen.

Das gesamte Ausmaß der Katastrophe haben wir hier nur über den Fernseher und das Internet mitbekommen, sie scheint „biblische“ Ausmaße genommen zu haben, das meiste wird man wohl erst begreifen, wenn die Wassermassen weg sind. Aber jetzt schon ist klar, dass die Ahrtal-Flut gegen die Thessalische Unwetterkatastrophe wohl nur ein Vorspiel war, dessen, was noch als Klimafolgen auf Europa zukommt. Leider gibt es auch im griechischen Parlament schon wieder Redner der rechtsaußen-Parteien, die den Klimawandel für eine Verschwörung halten oder eine Strafe Gottes (Und da Griechenland noch viel kleiner ist und noch weniger Wirtschaftskraft hat als Deutschland, hat es ja erst recht keinen Einfluss auf die Zusammensetzung der Atmosphäre.)

Fortsetzung: Nach dem Regen kommt erst die richtige Flut