Fünf Tage Larissa: Aus- und Irrwege aus der Flut

13. September, Larissa

So schnell wird wohl kein Weg hinaus führen. Es ist aber gut, dass wir in Larissa sind – in den abgeschnittenen Orten wie Agia und Umgebung in Mavrovouni werden die Lebensmittel knapp. Auch in Larissa schnellen die Preise, insbesondere für Milch und frisches Gemüse, in die Höhe. Die Lieferketten sind unterbrochen, und schlimmer noch: die Gemüsefelder sind überschwemmt oder zerstört. Das Kilo Tomaten kostet weit über zwei Euro, ein Bund Petersilie wird mit 1,50 € gehandelt. Das Trinkwasser funktioniert, es ist sauber, wie die örtlichen Behörden immer wieder versichern – doch über die privaten Fernsehkanäle wird das Gegenteil behauptet : das fördert den Absatz an Einwegwasserflaschen. Die bekommt man, wie an erfährt, in den abgetrennten Ortschaften wie Agia und Agiokampos schon gar nicht mehr.


Mittlerweile hat man sich an das Alltagsleben in Larissa gewöhnt, die Hoffnung, dass die Straße nach Osten wieder frei wird, ist gedämpft. Die Informationen sind zwar wirr, denn es gibt keine verlässliche Nachrichtenseite im Netz, alles basiert auf Gerüchten, die über Social Media und besonders über Hörensagen über Telefon verbreitet werden (In Larissa sind mehrere Online-Nachrichten-Plattformen aktiv – aber sie sind in erster Linie mit Werbung zugepflastert, und die Nachrichten sind – offenbar von halb-privaten verfasst – nicht immer zuverlässig. Nach dem klassischen griechischen Frühstück (Toast, Frappe) suchen wir einen Weg auf den südlichen Teil des Pilion. Hierher sind die Wege frei. In Ano Lechonia gibt es den Bahnhof der noch als Museumsbahn betriebene Teilstrecke der Schmalspurbahn Volos-Milies. An Wochenenden kann man hier tatsächlich noch Fahrten mit den restaurierten Zug aus der Zeit der Jahrhundertwende buchen. Heute ist aber kein Betrieb.

Die verfluchte Villa von Ano Lechonia

Hier stoßen wir auf eine vefrfallene Villa – sie ist legendär und von finsteren Sagen – und wahren, traurigen historischen Ereignissen – umwoben.

Entworfen wurde die Villa im Stil der französischen (Neo)-Renaissance von einem gewissen Evaristo de Chirico. Der Italiener war unter anderem mit der Planung der griechischen Eisenbahnen der Region beschäftigt, nebenbei baute er Villen für Wohlhabende. Den Namen de Chirico schon mal gehört? Richtig. Der Sohn des Architekten war der bekannte durrealistische Maler Giorgio De Chirico (*1888 in Volos, + 1978 in Rom). Vollendet wurde das Haus kurz vor 1900. Die erste Familie, die sich im Haus niederließ, war die Familie Kontos, Gerüchten zufolge begann es im Haus zu spuken, nachdem eine „giftige“ Eidechse in die Milchkaraffe gefallen war und die drei Kinder der Familie getötet hatte. Andere Legenden berichten von Tuberkulose oder Syphilis, die die Kinder dahin gerafft haben soll.

Auch nach dem Auszug der Familie ging der Schrecken, den das Haus verbreitete, weiter:  Während der deutschen Besatzungszeit diente das Gebäude als Hauptquartier der Gestapo. Hier wurde gefoltert und gemordet.. Die letzten Opfer der Gestapo waren zwei Bewohner, die im Dienst der Gestapo gestanden hatten.

1985 wurde das Gebäude von der Gemeinde erworben, mit dem Ziel, hier ein Kulturzentrum einzurichten. Es fand eine Ausschreibung statt, es gab einen Architektenentwurf mit ausführlichen Ausführplanungen. Der Architekt verstarb jedoch, bevor die Pläne eingereicht werden konnten. Man fand einen zweiten Architekten, der die Planungen übernehmen und einreichen sollte – auch er verstarb. Heute ist das Haus nach wie vor eine Ruine. Wahrscheinlich wird ein dritter Projektleiter kaum zu finden sein.

Zurück in Larissa, versuchen wir den Wasserstand an der Ausfallstraße nach Agia zu erkunden. Die alte Brücke über dem Hauptarm des Pinios-Abflusses ist nicht mehr überspült, vier Meter unter ihr strudelt das Wasser des Pinios und von den umliegenden Feldern in Richtung Karla-See.. Das gibt Hoffnung – wenn der Wasserstand hier so weit gesunken ist, müsste doch der Rest des Weges auch frei sein. Ist er aber nicht. Zwischen den Dörfern Elefterio und Gerakari verliert sich die Straße in einer Wasserfläche, eine Polizeisperre steht davor. Wir fragen die Polizisten, ob sie eine Ahnung haben, was weiter passieren wird, und ob sie irgendwelche Umleitungen empfehlen können.. Sie wissen es nicht, niemand weiß irgend etwas – denn eine solche Katastrophe dieses Ausmaßes hat hier seit Menschengedenken nicht stattgefunden. Vielleicht morgen, vielleicht nächste Woche – und vielleicht steigt das Wasser sogar, weil der Karla-See irgendwann voll sei, meinen die Polizisten.

Im „Chalero Kafeneio“ in Larissa

Abends auf dem Balkon – wir sind eigentlich fertig für die Nacht – dringen fröhliche Gesänge unten von der Straße herauf. Es ist schon ziemlich spät in dem Wohnviertel. Aber man kann ja mal sehen, was da gefeiert wird. Im „Chalaro Kafeneion“ (entspanntes Kaffeehaus) einem von Studenten betrieben kleinen Cafe von vielleicht vier Meter Breite und zwanzig Meter Länge, spielt eine improvisierte Laiengruppe traditionelle Rebetika. mit Bousouki und Gitarre. Der Gesang ist sicher verbesserungswürdig – doch der Spaß ist um so größer. Wir bleiben bis Nachts um drei.

14. September: Zoologische Entdeckungen im Überschwemmungsgebiet

Ein weiter Ausbruchversuch am folgenden Tag führt zunächst wieder in Richtung Elefterio. Hier gibt es Feldwege, die etwas erhöht auf einem Damm liegen und nach Sykourio führen, von wo wir uns einen Weg über die Hänge des Ossa nach Agia erhoffen. Auch hier ist nach wenigen Kilometern Schluss.. Über die teils weggerissene Straße springen Fische, manche von ihnen – es sind offenbar junge Forellen – schaffen es tatsächlich, den halben Meter Höhenunterschied des Wasserfalls am Straßenrand zu überspringen und weiter über die Straße hinweg auf die andere Seite zu zappeln.

In einem kleinen Canyon, den die Fluten in die Tomatenfelder gerissen haben, tummeln sich ansehnliche Exemplare von Sumpfschildkröten.

Ein anderer Ausbruchversuch führt nach dem hässlichen Dorf mit dem vielversprechenden Namen „Omorphochori“ (schönes Dorf). Der Ort ist einer der hässlichsten der Gegend, auch hier endet die Straße im Wasser. Zudem versperrt ein von der Flut fortgespülter LKW den Weg.

Auch wenn es zunächst den Anschein hat, wenigstens die Stadt Larissa sei mit dem Schlimmsten davon gekommen – das stimmt nicht. Auf dem Rückweg gelangen wir in das Viertel „Ajos Thomas“. Hier standen die Häuser bis zu zwei Geschossen im Wasser. Die Flut ist hier zurückgegangen, Bulldozer schieben Hausrat, Lehm und Trümmer auf LKW, es riecht bestialisch nach faulem Hochwasser, ein gruseliger Ort. Zwei Streifenwagenbesatzungen nehmen gerade den Fahrer eines Pickups fest wegen des Verdachts der Plünderei.

15. September

Das Ende des Urlaubs naht, die Hoffnung schwindet schon langsam, unseren Ferienort zu erreichen, um wenigstens an die Koffer mit den Flugkarten zu gelangen.. Wir rufen die „100“ an, die Informationszentrale der Polizei. Eigentlich wissen die selten etwas, es geht aber tatsächlich jemand ans Telefon. Der Polizist am Telefon meint, die Straße sei immer noch nicht frei. Wir entgegnen, wir hätten gestern Nacht erfahren, dass Fahrzeuge durchgelassen worden seien. Man erklärt uns, das liege in der Verantwortung des Polizeibeamten vor Ort, man würde den Kollegen aber nicht empfehlen, jemanden durchzulassen. Wieder fahren wir hin. Vor uns eine Polizeistreife und ein ca. 600 Meter langes Stück Straße, etwa 40 cm mit Wasser bedeckt. Die Polizisten schauen weg, als einige Leute – auch wir – durchfahren. Immer noch strömt das Wasser hier Richtung Karla See, auch hier hüpfen die Fische über den Weg. Mehrere Lastwagen passieren die Furt Richtung Agia – es wird höchste Zeit. Denn die Lebensmittelvorräte der Kleinstadt und den umliegenden Dörfern sind am Ende.


Kurz vor Agia biegen wir ab, auf einem höher gelegene Weg, der entlang des alten Karla-Sees führt. Bei dem Ort Kalamaki biegen wir ab Richtung Elafos um den Bergkamm Mavrovouni zu überqueren. Von hier oben breitet sich ein beeindruckendes Panorama aus: Von Süd nach Nord, soweit das Auge reicht, erstreckt sich der in der Abendsonne silbrig glänzende, wiedererstandene Karla-See, in der Ausdehnung, wie ihn die antiken Schriftsteller beschrieben haben.



Im Supermarkt in Agia werden Abends kurz vor acht Uhr eilig die Regale wieder aufgefüllt. Eifrige Angestellte ziehen palettenweise Wasserkisten, Käse, Brot, Obst und Gemüse in den Laden, Die teils noch ausgiebigen Lücken in den Regalen zeigen, woran es gefehlt hatte: neben Getränken vor allem Grundnahrungsmittel wie Brot und Nudeln und Milchprodukte.

Das Meer von Agiocampos ist ruhig wie ein See, das graublaue Wasser lädt zum Baden ein. Aber niemand geht hinein. Die Vorstellung, welcher Unrat über die Flüsse und die gebrochene Kanalisation hier ins Meer gespült wurde, nötigt gehörigen Respekt ab.

Schematische Sicht übver das Hochwassergescheben September 2023: Blaue Pfeile: Nach den Regengüssen 7.-9- Septe,mber rauscht das Wasser zuächt in hoher Geschwindigkeit die Berghänge hinunter und überflutet einzelne Ortschaften und Felder. Erst dan schwillt der Pinios an (grüner Pfeil) und überflutet die an seinem Ufer liegenden Stadtteile und Dörfer. Er staut sich am Tempi-Tal, die Wassermassen fließen dann südostwärts und lassen den Karla-See neu entstehen (roter Pfeil.)

Diese Schilderung erghebt keinerlei Anspruch irgendwelcher Objektivität – es sind subjektive Erlebnisberichte aus dem Winkel eines Halleschen Reisenden. Eine obketivere Darstellung dieser Katastrophe geradezu historischen Ausmaßes findet man beispielsweise hier sowie in den einschlägigen Medienberichten.

Neue Schnellstraße soll die letzten unberührten Wälder durchschneiden: „um die Schönheit des Landes zu zeigen“

Beginn eines merkwürdigen Bauprojetes durch Mavrovouni und Pilion

Die letzten Jahre berichtete ich über eine schönen, verwunschenen Feldweg, der unterhalb des Ortes Sklithro durch Berghänge und Felsen entlang der Küste bis zum Ort Keramidi in den Pilion führt. Ein holperiger unbefestigter Feldweg, der an wenigen Häusern, kleinen Olivenhainen und einem verlassenen Bergwerk entlang führt. Am Ende des Weges liegt das Bergdorf Keramidi, das seinerseits eine gute Straßenanbindung in die thessalische Ebene bei Kanalia und weiternach Volos oder Larissa verfügt.

Keramidi selbst ist ein hübsches, verschlafenes Nest, malerisch in den Bergen gelegen, darunter am Meer befindet sich eine kleinen Badebucht, Kamari genannt, drei Häuser, ein Strandcafe.

Dieser Anblick gehört bald der Vergangenheit an: weiße Quarzsansteinfelsen in den Bewaldeten Berghängen zwischen Keramidi und Skiti im Nordteil des Pilion. Bald wird hier eine Schnellstraße die Landschaft durchschneiden

Von Keramidi aus führt dann noch eine etwa 15 Kilometer lange, einfache Straße zum nächsten Ort , Veneto genannt. Auch hier leben in den Sommermonaten vielleicht 100 Menschen, in den Wintermonaten kaum jemand.

Ein kleiner Reisebericht von 2018 – zwischen Mavrovouni und dem Pilion

Halbinsel Pilion (unten/mitte) und Bergland Mavrovouni (oben)

Sieht man sich die Gegend auf der Karte an, so stellt man fest, dass die stark von Tourismus frequentierte Halbinsel Pilion jedoch eine Sackgasse darstellt. Bis heute ist sie eigentlich nur von Volos aus erschlossen, am Ort Zagora enden die Verkehrsverbindungen. Besonders im Sommer und Herbst schlängeln sich horrende Autokolonnen von Volos kommend in die Bergdörfer des Pilion, verpesten die Luft und verursachen einen höllischen Lärm. Die Folge für die einst einmal romantischen Bergdörfer mit ihren bis in die 1980er Jahre nicht gut erhaltenen Steinarchitektur des 18. und 19. Jahrhunderts: sie wurden mit einer Vielzahl von Neubauten in Form von Hotels überzogen, protzigen Privathäusern (errichtet aus Beton, verkleidet mit Natursteinen und kitschigen Accessoires, die sie („traditionell“ aussehen lassen sollen), eine Skipiste ergießt sich vom höchsten Ort Chania in die Wälder hinab, Andenkenläden und Cafes säumen die sich hinauf schlängelnde Straße, auf der sich Reisebusse in die einst naturbelassene Landschaft hinaufwälzen.

Ein Bild, das bald der Vergangenheit angehört: Ziegenherde auf dem Feldweg Weg zwischen Sklithro (Mavrovouni) und Keramidi (Pilion)

Etwas zum Pilion gab es hier schon einmal zu lesen:

Sieht man sich die Luftbildkarte weiter an, so bemerkt man, dass die Berggegend des Pilion, und vor allem die von Mavrovouni, nahezu durchweg dunkelgrün ist. Es sind Wälder, eine der letzten geschlossenen Laubwaldgebiete Mittelgriechenlands. In der Karte findet man eine blaue Linie. Das ist die von „Google-Maps“ vorgeschlagene Fahrt auf den Pilon, alle Orte am Hang der bewaldeten Halbinsel werden nur von Volos aus erschlossen. Dann sieht man auf der Karte oben an der Küste eine Rote Linie. Dort hat gerade der Bau einer gewaltigen Schneise durch den Wald begonnen. Hier soll in den nächsten Jahren schon eine breit ausgebaute Schnellstraße durch die Wälder führen – versehen mit hohen Stütz- und Begrenzungsmauern, Rastplätzen, Tankstellen und Brücken und autobahnähnlich ausgebauten Anschlussstellen. Auch angrenzende Feldwege sollen asphaltiert und ausgebaut werden. Jahrhunderte alte Baume und Vergetationsräume werden abgeräumt.

Noch mehr Autoverkehr wird sich auf den Pilion ergießen, noch mehr Beton in den einst noch malerischen Ofrten vergossen, Siedlungen werden zu Hotelburgen, ehemals allenfalls forstlich oder landwirtschaftlich genutzte Grundstücke werden zu Bauland: die Begehrlichkeiten sind enorm. Bisher waren der Pilion und Mavrovouni kaum von Waldbränden betroffen: man darf hoffen, dass das nur daran liegt, dass hier an den Nordosthängen der Berge bislang verhältnismäßig viel Regen fiel. Straßen durch unberührte NAtur verboinden nicht nur Ortschaften miteinander, sie sind Magneten für weitere Zersiedelung. Man darf nur hoffen, dass sich nicht das Schlimmste bewahrheitet. Griechenland könnte eines seiner letzten Naturräume an Wirtschaft und Tourismus verlieren.

Die Bauarbeiten haben bereits in diesem Sommer auf den ersten Kilometern zwischen begonnen. Das, was man bereits erkennen kann, lässt die Ausmaße erahnen.

Die folgenden Aufnahmen entstanden in der ersten Septemberwoche 2021. Das erste Teilstück der neuen Straße verläuft genau dort, wo zwei bis drei Jahre vorher die Bilder aus der obigen Galerie auf dieser Seite entstanden.

-einfügen Bilder Straßenbau-

Träger der Baumaßnahmen ist die Regionalregierung der beiden thessalischen Präfekturen Larissa und Magnesia. Man erhofft sich mit dem Projekt, die Region für den Tourismus weiter zu erschließen, um dabei die besondere Schönheit der Landschaft zu zeigen (sic!). „Der Hauptzweck dieser (touristischen) Reiserouten besteht darin, die natürliche und vom Menschen geschaffene Umwelt hervorzuheben „. Quelle: elektronisches Nachrichtenblatt e-thessalia.gr)

Genehmigt und im Bau befindlich ist jetzt das erste Teilstück mit einer Länge von 12,1 Kilometer zwischen Rakopotamos/Sklithro und Keramidi/Kamari. Die Kosten für dieses erste Teilstück belaufen sich auf ca. 15 Millionen Euro. Die Fortsetzung ist in Planung, nämlich von dort weiter durch den nahezu unbewohnten Teil des Pilion bis Zagora, Gesamtlange etwa 43 km.

Berichte über die Gegend hatte ich bereits in den vergangen Jahren im Blog beschrieben:

Ein Reisebericht von 2017 – holprige Wege nach Keramidi

Giftige Mesedes? Gebratene Farnschösslinge

Veneto – der Besuch am Fuße des unzugänglichen Pilion war einen zweiten Besuch wert – um die Kochkünste des Tavernenwirtes weiter auf die Probe zu stellen, und sich noch einmal der guten Qualität des Tsipuro zu vergewissern.

mesedes
Neben Souvlakia vom Lamm und einer Vielzahl von Mesedes stellt er einen Teller mit bräunlich frittierten Stücken hin, die ausgesprochen wohlschmeckend sind, wir wissen nicht, was es ist, die Richtung, der Biss ist fest, sensorisch geht es in Richtung Pilze. Das seine „Fteres“ (Φτέρες), also Farn. Ungläubig schauen wir drein, denken, er mache Spaß. Doch, es sind junge Schösslinge von Farn, genau gesagt, vom Adlerfarn (Pteridium aquilinum). Es ist die Art von Farn, der auf dem Pilion ebenso vorkommt wie auch in Deutschland, und hier wie dort in den Wäldern ziemlich häufig ist – weil er von kaum einem Tier verbissen wird. Die Tiere wissen auch, warum. Adlerfarn gehört zu den giftigsten Farnarten überhaupt, stellen wir später bei einer Recherche fest – nachdem wir mit Genuss den ganzen Teller aufgegessen haben.

„Fteres“ (Adlerfarnschösslinge). Paniert und gebraten, serviert mit Knoblauch. Sehr lecker !

Der Wirt berichtet uns, dass dies eine Spezialität des Pilion sei, und man den schon seit Generationen esse. In der Tat: eingelegte Farnschösslinge werden auch in vielen Orten am Pilion als regionale Spezialität verkauft: (Bitte sehr, 460 Gramm für 5 €) Seltsames Gebirge, dieser Pilion – hier wird offenbar seit Jahrhunderten das Grünzeug aus den Wäldern gegessen, was die Tiere verschmähen (vgl. auch „Tsitsiravla“). Möglicherweise ist es die Zubereitungsart, mit der der Mensch die jungen die Triebe unschädlich und bekömmlich macht. Es werden nur im Frühjahr die ganz jungen Farntriebe gepflückt, wenn sie gerade aus dem Boden kommen und noch eingerollt sind. Dann werden sie in Salzlake eingelegt, wo sie dann eine Milchsäuregärung durchmachen, ähnlich wie Sauerkraut. Zur Zubereitung hat unser Wirt die Triebe dann in Ei und Mehl paniert und gebraten. Das Ergebnis köstlich, aber es bleibt ein mulmiges Gefühl. Man kann nachlesen, dass die Pilioten nicht die Einzigen auf der Welt sind, die Adlerfarn zubereiten.  „In einigen Gebieten der USA, in Japan und Neuseeland wird trotz alledem der Adlerfarn von Menschen jung als Wildsalat gegessen. Ein verstärktes Auftreten von Tumoren der Speiseröhre und Magenkarzinomen in diesen Gegenden wird damit in Verbindung gebracht“, sagt die schlaue Wikipedia. In den jungen Trieben sei eine hohe Konzentration von Blausäureglykosiden enthalten, heißt es, außerdem Thiaminase, die das lebenswichtige Vitamin B1 zerstöre.

Adlerfarn (ausgewachsen)

Adlerfarn (ausgewachsen)

Was es nicht alles gibt. Es gilt wahrscheinlich auch hier der Lehrsatz des alten Paracelsus, wonach nur die Dosis allen das Gift mache. Der Wirt selbst ist um die 80  – und scheint sich bester Gesundheit zu erfreuen. Und wir leben auch noch.

Adlerfarn-schoessling

Adlerfarn: junger Schössling. In dieser Form kann er weiterverarbeitet und dann gegessen werden.

 

Veneto: Sternengastronomie in der Sackgasse des Pilion

Von Keramidi weisen Schilder nach Kanalia, und etwa an der Stelle, an der wir auf der letzten Fahrt die Schweinchen entdeckt haben, zeigt ein verrosteter Wegweiser links ab nach „Veneto“ (Βενετο). Veneto – das klingt verheißungsvoll: liegt hier eine versunkene venetianische Stadt? Die Neugier führt uns auf Serpentinen durch einen herbstlichen Eichenwald, wieder parkähnlich gestaltet von unzähligen Weidetieren, grunzend grüßen die Sauenfamilien aus dem grünen Dickicht, während Herden von Kühen vor uns her dackeln, und die schmale Asphaltstraße mit ihrer braunen Pracht verzieren.

13 Kilometer sind es nach Veneto, und etwa auf halbem Wege erscheinen uns die marmornen Reste einer imposanten Palastanlage – die sich dann aus der Nähe, als Marmorsteinbruch offenbart. Hier wurden bis Ende der 1980er Jahre das wertvolle Baumaterial gewonnen.  Der Ausdruck „Steinbruch“ ist eigentlich hier falsch, denn man hat peinlichst vermieden, dass beim Abbau irgend etwas „bricht“. Marmor wird seit der Antike nicht gesprengt oder gebrochen, sondern direkt aus dem Felsen gesägt. Bis zu 4 Meter hoch waren die Würfel, die man sorgfältig maschinell mit Stahlseilen aus der Wand gesägt hat. Die Spuren der Seile, mittels derer und viel Sand und Wasser, das Material herausgelöst wurden, sind immer noch in den glatten Felswänden zu sehen, erstaunlich unverwittert, nach nun immerhin bald 30 Jahren, seit die Marmorgewinnung hier still liegt.  Der Marmor hat feine graue Aderung, und ist gelegentlich sogar von dunkelgrünen Bändern durchzogen. Aber leider machten gerade diese dunkelgrünen Adern, die weicher sind als das übrige Kalkgestein, ebenso wie die feinen Risslinien, die die meterhohen Blöcke durchziehen, den Abbau des dekorativen Materials unwirtschaftlich. Die Marmorsägen, derer es heute noch viele bei Volos und Larissa gibt, beklagten sich über zu hohen Ausschuss, da man allenfalls Platten bis etwa einem Quadratmeter Größe sägen konnte, ohne dass etwas brach. Und so liegt das Monument der Technik brach, wird die Ewigkeiten überdauern wie so mancher  Steinbruch der antike, deren technische Spuren heute noch Archäologen und Laien beeindrucken. Heute dient der Steinbruch der Aufstellung von hölzernen Bienenkästen, die man auch sonst an jeder Straßenbiegung am Waldrand vorfindet. Der Pilion ist einer der Hauptproduzenten griechischen Honigs.

marmorbruch bei veneto pilion

Marmorbruch bei Veneto (Pilion)

 

In Veneto endet die Straße, weiter führt sie nicht. Über einen gut ausgeschilderten Fußwanderweg könnte man den Ort „Pouri“ auf der anderen Seite des Pilion erreichen. Den weiteren straßenmäßigen Ausbau hat die Kirche verhindert – nicht durch fromme Gebete und Bürgerproteste, sondern kraft ihres Grundbesitzes: oberhalb von Veneto gehören ihr 18 Quadratkilometer Land.  Und so bleibt der bescheidene Ort Veneto in den Bergen von Toruristenströmen, die sonst viele Dörfer des Pilion in eine gruselige Kitschflecken verwandelt haben, weitgehend verschont.

Das Kirchlein am Eingang des Dorfes ist eine schliche Basilika, mit einer äußeren, umlaufenden Vorhalle und drei kleinen Apsiden. Das seitliche (leider verschlossene) Eingangsportal zeigt die bäuerlich-naive Umsetzung teils osmanischen Barocks, teils byzantinischer Tradition, so etwa die herzallerliebst anzusehenden Vasenmotive und „byzantinischen“ Vögelchen. Die Inschrift auf dem Kragstein datiert das Bauwerk in die Zeit um 1765. Über dem Portal befinden sich bauzeitliche Ikonen als Wandmalerei. Die mittlere zeigt  die Darstellung Jesu im Tempel, links ist Prophet Jeremia dargestellt, rechts Jesaja. Ypapanti (Υπαπαντή, Darstellung des Herrn) ist auch das Patrozinium der Kirche.

eccclisia ypapantis veneto 2

Von links nach rechts: Jeremiah (Ο ΠΟΦΗΤΗΣ ΙΕΡΕΜΙΑΣ), Darstellung des Herrn (ΥΠΑΠΑΝΤΗ ΤΟΥ ΘΕΟΥ), Prophet Jesaia (Ο ΠΟΦΗΤΗΣ ΗΣΑΙΑΣ)

Von hier führt ein Weg zwischen den Häusern zur obligatorischen Plateia, von der man einen Ausblick über die Hausdächer und Wälder auf das 270 Meter unterhalb liegende Meer hat. Die Taverne wird von einem Mitte 70-jährigem Rentner betrieben, wenige Besucher sitzen hier auf dem Platz. Der Wirt wird bei unserem Verlangen nach Tsipuro redseelig. Zunächst belehrt er uns, dass man hier Tsipuro nicht nach 14:00 Uhr trinke – andere Gegend, andere Sitten. Und wir mögen ihn keinesfalls mit Wasser verdünnen (wie man das in Larissa immer macht).

Der Grund offenbart sich, als er das Elixier in kleinen Fläschchen serviert: es ist mit großem Abstand der beste Tsipuro, und wohl das beste Destillat, das ich im gesamten Griechenland gekostet habe. Weich im Abgang, den kratzigen Geschmack billigen Sternanises vermisst man nicht, und es gibt auch keine Fuselnote im Hintergrund. 15 verschiedene Zutaten hat er, der den feinen Brand selbst herstellt, vor der zweiten Destillation hinzugetan, sorgfältig abgestimmt. Er lässt uns raten, was drin ist, wir kommen auf eine Spur von Anis, und auch etwas Orange schmecken wir heraus. Er erläutert: Unter anderem sind es Anis, Korianderkörner, Orangenschalen, Mastixharz, Muskat, Nelken, Zimt, Piment, Apfelschalen, und: Zwiebeln.  „Zwiebeln“? Ja, sagt er: die Zwiebeln geben eine süßliche Note, das sei doch genau so, wie beim Kochen, da verleihen die Zwiebeln dem Gericht ja auch keine Schärfe, sondern machen das Gericht rund und süß. Alle 15 Zutaten scheint er uns nicht verraten zu wollen, doch nur noch eine, die einem Chemiker sinnlos erscheint: Salz – auch das gibt er vor der Destillation zu. Unser Wirt scheint ein wahrer Alchemist zu sein. Und die Basis der alkoholischen Gärung? Nicht etwa Weintrester, wie es üblich ist, sondern eine Maische aus Korinthen und Wasser.  Eine Zeremonie sind auch die Mesedes, deren Geschmack bezaubernd ist, und nicht unbedingt „klassisch-Griechisch“. Beeindruckend: ein roter, säuerliche Salat in etwas Olivenöl, auch hier sollen wir die Zutaten herausfinden. Die gerieben Rote Beete verrät sich schon durch ihre Farbe, auch die Karotten und den Sellerie finden wir heraus. Bei den Gewürzen müssen wir aufgeben:  Koriander, Knoblauch (Hauch) und: Curry (!). Letzteres erwartet man nicht in der klassischen einheimischen Küche. Es habe was mit seinen internationalen Erfahrungen zu tun, die halbe Welt habe er bereist, vor allem Argentinien, Deutschland Russland usw. und von Überall Ideen und Geschmäcker aufgegriffen. Einen gewissen Einfluss habe auch seine vierte Frau, die aus Russland stammt (Von dort scheint auch das letzte Geheimnis seines Salates zu stammen, das er uns nicht verraten will: wodurch das Zeug seine pikante Säure habe. Es sind weder die mediterranen Klassiker Essig oder Zitrone (Wahrscheinlich hat er das Material einer Milchsäuregärung unterzogen). Eine interessante Fusion-Küche halt, wobei der griechische Charakter trotz aller Experimente deutlich erhalten bleibt. Sehr zu empfehlen, dafür gibt es sechs Sterne.

 

 

Von Mavrovouni auf den Pilion: holprige Wege nach Keramidi

Wer von Larissa – oder Aghiokampos aus den Pilion erreichen wollte, jene auch unter griechischen Touristen und Ferienhausbesitzern begehrte Berglandschaft, würde, normalerweise einen – zumindest auf der Landkarte – sehr umständlichen Weg fahren, der fast drei Stunden benötigt: Über Larissa die Schnellstraße oder gleich die Autobahn Richtung Volos , Portaria, und dann, beispielsweise Richtung Tangarada oder Zagora fast die Ganze Halbinsel umrunden.

Von Aghiokampos nach Keramidi und Kamari am

Von Aghiokampos nach Keramidi und Kamari am Fuße des Pilion

Es geht auch anders: Knappe 20 Kilometer sind es von Aghiokampos, dem Traumstrandort Larissas, zu einem der Traumstrände des Pilion, Nomos Volos. Den Weg muss man nur kennen. Ein kleines Stück die normal ausgebaute Küstenstraße entlang, und nach etwa 10 Kilometern Weg, wo sich die Straße langsam in die Berge  ansteigt, wenige hundert Meter, nachdem man den Fluss Rakopotamos überquert hat, der hier ins Meer mündet (und wo es einen beliebten Strand mit guten Angelmöglichkeiten gibt) gibt es ein handgemaltes Straßenschild: Keramidi Volou. Das Schild verweist auf einen holprigen Waldweg, 12,6 Kilometer sind es nur, wenn man dem Schild traut. An den Steilhängen entlang schleicht sich der rumplige Schotterweg (mit etwas Mut auch für nicht ganz geländegängige Fahrzeuge durchaus passierbar) durch dichte, dunkle Wälder, dann wieder Macchien, Olivenhaine, und immer wieder liegt das Meer in beängstigender Tiefe ganz tief links unten.

Unterwegs zwischen Mavrovouni nach Keramidi (Pilion). Im Hintergrund unten das ehemalige Bergwerk

Unterwegs zwischen Mavrovouni nach Keramidi (Pilion). Im Hintergrund unten das ehemalige Bergwerk

Auch zu Fuß wäre der Weg zu schaffen – vielleicht eher im Herbst, wenn es nicht ganz so heiß ist, dafür aber die Pilze am Wegesrand locken. Auf der Strecke, die man mit dem rumpelnden Wagen etwa eine Stunde benötigt, weil man auch hin und wieder anhalten muss, um den Blick über die Landschaft schweifen zu lassen, oder um Feigen zu mopsen, glaubt man manches Mal gar,  ganz woanders zu sein, etwa auf Rügen, woran die gleißend weißen Sandsteinfelsen erinnern, die immer wieder am Hang, bekrönt von hohen Buchen und Eichen, auftauchen.

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Weiße Sandsteinfelsen begleiten den Weg

Diese gut 12 Kilometer können da sehr lang werden. Glaubt man, nie wieder aus dieser erstaunlich feuchten Wildnis heraus zu kommen, sieht man rechts oben im Gebirge eine aus Steine gebaute Ortschaft liegen: Keramidi ( oder Keramidion, es gibt zwei Schreibweisen).

Das letzte Stück nach Keramidi hinauf führt nun eine ganz normale Asphaltstraße, und links hinunter geht die Straße nach Kamari.

Dort oben liegt der Ort Keramidi am Fuße des Pilion

Dort oben liegt der Ort Keramidi am Fuße des Pilion

Erst Baden? dann fahren wir erst einmal den Weg hinab. Kamari: Kleine Bucht, ein paar Häuser, eine Taverne, die allerhand Erfrischungen anbietet. Am Strand wenig Betrieb, das Wasser ist glasklar. Beim Schwimmen im lauwarmen, türkisfarbenen Wasser wird man zuweilen kalt erwischt: schuld daran sind die plötzlich am Ufer kalt aufkommenden Strömungen- es sind Quellen, die  unterirdisch aus dem Flussbett münden, das sich hier, aus dem Pilion-Gebirge kommend, kaltes Bergwasser  ins Meer drückt.

Strand von Kamari

Strand von Kamari

Hat man genug vom Strand, dann kann man endlich nach Keramidi fahren. Es ist einer der ganz wenigen, hoch gelegenen Pilion-Orte  (damals, wegen der Piraten, hat man sich im Gebirge versteckt), der noch nicht vom Tourismus entstellt worden ist. Viele der Häuser (die meisten noch aus spätosmanischer Zeit der 1880er Jahre, mit betont christlichen Symboliken in den Türsturzen) sind noch gut erhalten, zwischen ihnen bescheidene Neubauten der 1990er Jahre, das ein oder andere Haus (noch) ruinös, insgesamt ein harmonisches, natürliches Ortsbild. Als wir auf der Plateia ankommen, ist noch späte Mittagszeit, die bescheidenen Kafeneia bereiten sich auf die Öffnung vor, der Ort wirkt fast ausgestorben, denn die meisten Leute schlafen. Ein Mädchen fegt mit einem Reiserbesen den Platz vor dem Laden ihrer Eltern. Die Kirche aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, im inneren im volkstümlichen Stil des osmanischen Barocks gehalten, ist geöffnet. Marmorimitiertende Säulen tragen Rockocko-Kapitelle mit Vögeln (Pelikane) als Skulpturenschmuck. Eie geschnitzte Ikonostase gibt es, und drei Frauen (deshalb ist die Kirche geöffnet, sind mit Putzarbeiten beschäftigt, man streitet sich wortgewaltig und durchaus mit unchristlichen Kraftausdrücken über den Arbeitsablauf, denn es gilt, ein Fest vorzubereiten, Blumen werden ausgelegt, und alle Scheiben vor den Ikonen, die am meisten von den Gläubigern geküsst werden, müssen mit Sidol abgerieben und desinfiziert werden. Beim Spaziergang durch den Ort treffen wir auf einige Opas, die sich langsam von der Mittagspause erhoben haben, zwischen den zahllosen Blumentöpfen, die die schmalen Gässchen zieren, dösen Katzen, Hunde kläffen. Und immer wieder ergeben sich wundervolle Ausblicke über das Meer, das sich dunkelblau tief unten ausbreitet. Hier wären wir gerne geblieben, um das Abendleben auf der Plateia zu genießen – doch morgen ist Aufbruch.


Zu entdecken gibt es in dieser Ecke noch viel: beispielsweise die Überreste eines (angeblich) venezianischen Bergwerkes, dessen Mündungsstollen etwa auf halber Strecke des Rückwegs, unterhalb der Siedlung Ischiomata, mit seinem Mundstollen und den steinernen Stützmauern sich zum Meer hin öffnet. Andernmal.  Nächtes Jahr wieder. Kallo Chimona.