Nach dem Regen: erst jetzt kommt die wirkliche Flut

8. September

Auf dem Weg von Agiokampos an der Küste kündigt sich das bevorstehende Drama an. Die in den letzten drei Tagen niedergegangenen Wassermassen bahnen sich ihren Weg über die Chimari (Winterflüsse, im Sommer ausgetrocknete Flussbetten) nicht nur Richtung Meer – sie wälzen sich in das Landesinnere. Im Fernsehen werden Bilder der Schlammfluten gezeigt, die sich vom Pilion ihren Weg durch die an seinem Fuß liegende Hafenstadt Volos bahnen. Volos hat kein Trinkwasser, keine Elektrizität. Das Wasser, das sich in den Ebene um Karditsa und Larissa versammelt hat, kennt ab jetzt nur einen Weg: hinein in den Fluss Pinios, der von hier in Richtung Stomio ins Meer verläuft. Dazu muss das Wasser die Engstelle der Tempi – Schlucht passieren – zuvor staut es sich auf. Die größte Stadt an seinem Ufer ist Larissa. Der Pegel steigt hier rasch an, erste, niedrig gelegene Stadtteile werden überschwemmt.. In der Stadt fällt der Strom zeitweise aus, der Zusammenbruch der Trinkwasserversorgung droht. Aus Sorge um die Verwandtschaft fahren wir dorthin – auch wenn ihr Stadtviertel selbst nicht bedroht ist. Die Idee: wir könnten sie vielleicht auch zu uns holen, wenn in Larissa die Lichter ausgehen. Sowohl Strom und Wasserversorgung funktionieren wieder, als wir am späten Nachmittag ankommen. Das Briefmarkenfernsehn läuft ständig, dramatische Meldungen kommen von den umliegenden Dörfern, die sowohl infolge der primären Niederschläge, nun aber auch durch den Anstieg des Flusses unter Wasser stehen. Bilder von Häusern auf dem flachen Lande, die bis zum Dach unter Wasser stehen. Es gibt wenig Informationen, wo sich welche Wassermassen bewegen, dafür aber unzählige dramatisch inszenierte Einzelfallschilderungen, wobei hier besonders der Privatsender Mega unangenehm auffällt. Wir treffen uns in der Nachbarschaft mit Freunden, die Innenstadt wirkt seltsam entspannt, die Leute gehen an diesem Freitag Abend ihren gewohnten Freizeitbeschäftigungen nach: Ausgehen, Flanieren, als wäre nichts. Es gibt Warnungen, der Fluss könne die Marke 9,50 m übersteigen. Nachts gehen wir zu Fuß in die Viertel am Ufer des Pinios, um die Lage zu checken. In einigen Vierteln ist das Wasser gestiegen, Sandsäcke liegen vor den Eingängen, das Wasser schein jedoch zu verharren und fällt hier auch am nächsten Tag schon wieder.. Man hört keine Polizeisirenen, langsam fahren Feuerwehrfahrzeuge durch die Straßen, sonst nichts. Ein erstaunlicher Kontrast zu der Hochwassersituation, wie man sie von Halle 2013 kennt. Die Stimmung wirkt unaufgeregt und relativ entspannt. Der Eindruck täuscht: Aus den Nachrichten ist zu erfahren, dass die dem Fluss gegenüberliegende benachbarte Kleinstadt Janouli, die anders als Larissa nicht durch Deiche und ein in den 1990er Jahren errichtetes System aus Umflusskanälen und Dämmen geschützt ist, voll Wasser läuft. Viele Bewohner können die überwiegend mehrstöckigen Wohnhäuser nicht verlassen.

Samstag, 9. September

Wir sind in Larissa geblieben. Seit Morgenanbruch donnern unaufhörlich tonnenschwere Militärhubschrauber über der Stadt. Man versucht, vom Hochwasser eingeschlossene Menschen per Seilwinde von den Dächern zu retten. Kamerateams von Mega-TV und anderen Privatsendern haben sich in die Hubschrauber gedrängt, sie filmen hautnah, wie alte Leute mit Seilwinden an Bord der Militärmaschinen gezerrt werden. Verpixelt wird wenig. Beliebt sind auch Aufnahmen, wie Kamerateams die Bewohner überschwemmter Wohnungen „besuchen“, ihnen das Mikrofon unter die Nase halten. Weinende, verzweifelte Menschen bringen Klicks und Quote. In Dauerschleife werden solche Aufnahmen den ganzen Tag wiederholt, kommentiert von sich ins Wort fallenden, aufgeregt schreienden Moderatorinnen und Journalisten. Fakten erfährt man wenig. Der Leiter der Katastrophenschutzbehörde will ein paar Zusammenhänge erläutern – die keifenden Moderatorinnen fallen ihm ins Wort, es gelingt ihm nicht, Wesentliches rüberzubringen.

Auch an diesem Samstag Abend wirkt das Leben im Stadtzentrum von Larissa entspannt. Wir treffen uns mit Freunden in einem Viertel am „Frurio“ (Kastell) die Tavernen sind voll, heiteres Leben. Wir erfahren, dass Freunde (deren Haus auf Platykampos vom Dach her geflutet war, schon mit der ersten Hochwasserwelle vorübergehend eingeschlossen waren, und gerade das Haus notdürftig gereinigt hatten), über die Warn-App „112“ vor einer neuen Hochwasserwelle gewarnt wurden . Sie sollten sich, wie die Bewohner einiger anderer Ortschaften, zur Evakuierung bereit halten. Nun sind sie auch hier in Larissa. Und wir erfahren, dass wir nicht zurück an die Küste nach Agiokampos können – die Verbindungsstraße zwischen Elefterio und Jerakari sei überschwemmt. Huch! Wie kann das sein? Zwei Tage nach Ende der Regenfälle haben nämlich die Wassermasse des Pinios, der sich an der Tempi-Schlucht staute, ihren bis zur Trockenlegung des Karla-Sees bestehenden natürlichen Ausweg gefunden:: östlich von Larissa strömt das Wasser nun zwischen den beiden genannten Orten in Richtung Südosten und ergießt sich über die Felder hinein in das ehemalige Seengebiet. Dort steigt das Wasser nun an, überschwemmt nicht nur wertvolles Ackerland, sondern auch Häuser und Dörfer, die nach der Trockenlegung des Sees hier entstanden sind (Mehr zu diesem See und seiner langen Umweltgeschichte gibt es hier). Auch die Autobahn nach Thessaloniki wird überspült. Wir sind in Larissa „gefangen“. Was wir nicht wissen: Der Zustand wird nun fast eine Woche anhalten. Lediglich der Weg Richtung Athen ist wieder frei, wo wir aber nicht hin wollen. Auch Larissa ist eine schöne Stadt, aber hier haben wir den Urlaub nicht geplant.
In den folgenden Tagen versuchen wir täglich, irgendwelche „Ausbruchswege“ gen Osten in die Berge von Mavrovouni zu finden, lernen dabei lauter mögliche Umwege kennen – und landen ständig irgendwann vor Polizeisperren oder einfach überfluten Straßen und Feldwegen.

Larissa / Volos, 10. September

Hinter der Brücke nach Janouli hat sich eine Menschentraube vor einer Polizeiabsperrung gebildet. Viele Einwohner wollen aus unterschiedlichen Gründen hinüber. Zu den Häusern und ihren Bewohnern führt nur eine vom Katastrophenschutz eingerichtete Schlauchbootverbindung. Viele wollen trotzdem rüber. Berechtigt sind nur betroffene Anwohner, die dies – z.B. über eine gemeldete Adresse – auch nachweisen können. Das sehen viele nicht ein, die „nur mal dort nach Ihren Freunden sehen wollen“. Es gibt immer wieder Disput, Polzisten werden angeschrien und teils beleidigt.

11. September

Tatsächlich ist nicht nur die Autobahnverbindung, sondern auch die alte Landstraße kurz hinter Larissa in Richtung Tempi und Thessaloniki überschwemmt. Am Straßenrand unzählige überflutete Fabriken, umgestürzte Bienenstöcke schwimmen im Wasser, die Tiere schwirren orientierungslos in der Luft herum.

12. September


Man kann allerdings – erstaunlicherweise – über die Umgehungsstraße nach Volos den Pilion erreichen – immerhin, ein Versuch ist es wert. Über die Autobahn nach Athen – die mittlerweile von den Resten der Flut notdürftig gereinigt wurde, erreichgt man die Umgehungsstraße von Volos, und fast wie gewohnt kann man sich von hier über Ano Volos und Portaria bis in die Höhe von Chania empor schrauben. Wenige Tage zuvor hatte das Fernsehn über ausgewählte Bilder vermittelt, die Infrastruktur des Pilion sei nahezu komplett zerstört – eingestürzte Brücken, weggerissene Häuser. Bei Ano Volos ist tatsächlich ein Teil der Straße von den herabstürzenden Wassermassen eines dortigen Wasserlaufs eingestürzt. Lastwagen bringen vom nahegelegenen Steinbruch gerade fuhrenweise Felsbrocken heran, um die Schäden zu beseitigen. Der Chimaros hat tatschlich eine Schneise der Zerstörung hinterlassen, zwei ganze Häuser sind weggerissen, ein halbierter Lastwagen liegt in der Schlucht. Es sind genau die Bilder, die ständig vom Fernsehen in Dauerschleife gezeigt wurden. Im weiteren Verlauf der Straße nach oben sieht man, dass das Hochwasser vor allem Schäden in der Ebene hinterlassen hat – die Bergdörfer haben – mit Ausnahme der Häuser, die zu nah an den Wasserläufen gebaut wurden, keine Schäden. Vor Chania halten wir an dem „Bio-Laden“ an, wo man Honig, Kräuter usw. kaufen kann. Die junge patente Ladenbesitzerin kenne wir schon, wir unterhalten uns. Sie findet, die Schäden auf dem Pilion seien überdramatisiert. Ihnen ist nichts Nennenswertes passiert, das Wasser fließe so schnell wieder ab, wie es gekommen sei. Nur einige Bergstraßen hätten Schaden genommen. Leider höre die Politik nicht auf die Warnungen, sowohl, was den Klimaschutz betrifft, als auch die örtliche Hochwasser- und Katastrophenvorsorge, das Wahlverhalten mancher Leute sei halt dumm usw.

Auf dem Weg zurück gerät man durch Volos. Die Wasser- und Schlamm-Massen haben ihre Spuren hinterlassen. Es bietet sich ein surreales Bild. Wo zwei Tage zuvor sich meterhohe Schlammlawinen durch die Straßen gewälzt hatten, und wo man sah, wie hoch das Wasser in den Wohn – und Geschäftsstraßen stand – läuft das Leben schon wieder fast wie gewohnt. Autos wirbeln den zu Staub getrockneten Schlamm zu dichten Wolken auf. Fast alle Geschäfte sind wieder gesäubert, sind geöffnet und die Kunden gehen ein und aus. Es sieht aus, wie zwei Tage nach Schneefall in einer deutschen mittelgroßen Stadt, nur dass die säuberlich am Straßenrand aufgeschichteten Haufen aus Schlamm, und nicht aus Schneematsch bestehen. Auf den Bürgersteigen haben die Ladenbesitzer mit der Kehrschaufel Trittpfade freigeschaufelt. Am vor zwei Tagen völlig überfluteten Hafen haben die Cafes wieder geöffnet – alles so wie immer, wie es scheint.

Zerstörungen am Rand des Chimaros in Ano Volos, Volos am 12. September vom Pilion aus gesehen

Fortsetzung: Fünf Tage Larissa – das war nicht geplant