Trago Bock und andere wilde Geschichten aus dem Pilion

Der Pilion ist der Nachbarberg südlich von Ossa und Mavrovouni. Sein Gebirge türmt sich bis 1600 Meter hinauf, darüber wurde hier schon berichtet, es soll nicht wiederholt werden. (https://minoan.wordpress.com/2011/08/29/hei-wu-abermals-im-land-der-griechen/ )

Mehr aus Zagora: Knochenarbeit und rote Äpfel. (27-30. August 2013)

Der Weg von Mavrovouni zu den Orten des Pilion ist weit, obwohl beide Berge aneinander grenzen. Das liegt an unüberwindbaren Bergriegeln  und einem großen Jagd- und Naturschutzgebiet, das sich an den nördlichen Hängen des Pilion ausdehnt. Also muss man zuerst zur Hafenstadt Volos fahren, das Pilion-Massiv halb umrunden, sich bis zum Skigebiet Chania hinaufschrauben, um dann wieder hinab zu gelangen, durch dichte Buchen- und Eichenwälder, bis man dann in die Apfeldörfer gelangt, die sich ober- und unterhalb der Serpentinenstraßen an den Hang zwängen. Ziel: Zagora.

Der Pilion ist als Reiseziel beliebt, insbesondere bei einheimischen, „naturverbundenen“ Touristen, die die Ursprünglichkeit Griechenlands suchen. Einst war Pilion mit seinem dichten, regenreichen Wäldern  Zuflucht- und Wirtschaftsraum seiner vorwiegend slavischstämmigen Bevölkerung, die Dörfer und Kleinstädte in den Bergen waren weder für Piraten noch die osmanischen Besatzer beherrschbar. Ortsnamen der wichtigsten Siedlungen wie Tsangarada (Zarograd, Königsstadt) oder Zagora künden noch heute davon. Heute leben die Ortschaften von Land-  Forstwirtschaft und Tourismus. Die historische Bausubstanz der meisten Ortschaften ist mittlerweile durch noch „authentischere“ Bauten ersetzt und erweitert worden. Leider. Dabei  bediente  man sich der Klischees über „authentische“ Architektur, die in den späten 1980-er Jahren entstanden. Sie orientierten sich an den damals hier noch vorhandenen Bauten Osmanischer Zeit des 18. und frühen 19. Jahrhunderts.  Zusammen mit den (heute noch existierenden) grünen dichten Wäldern entstand das Klischee eines alternativen „unser Griechenland“.

Während die Wälder auch heute noch weitgehend intakt sind, wurden die meisten der historischen Bauten in den Touri-Dörfern ein Opfer dieses Klischees. Aufsteigend von Volos wurde das erste Opfer Makrinitza, dann folgten Portaria, Tsangarada und Kissos. Romantisch mit Steinmauerwerk verkleidete Betonburgen und Hotelanlagen säumen die gut ausgebaute Bergstraßen, Busladungen ergießen sich in „Dörfer“, die „Yes-Please“ traditionellen Honig bis hin zu Apfelessig anbieten. Und jedes Haus ist eine Taverne mit Bergflair.  Dass wir wieder in den Pilion fahren, hat etwas mit der Verwandtschaft zu tun, die da ein Ferienhaus hat, glücklicherweise in einem der letzten Orte, die noch nicht ganz heimgesucht worden sind (hier liest ja keiner mit, also Finger weg): Zagora.

In Zagora lebt man vorwiegend von der Landwirtschaft, um nicht zu sagen: einer Monokultur von Äpfeln. Monokultur ist wiederum übertrieben, denn es werden zu 90% rote Äpfel („Zagorin“) angebaut, aber gelegentlich auch gelbgrüne Äpfel.

Unten im Dorf treffen wir uns bei Niki, der Taverne schlechthin. Unser albanischer Kumpel Leftheris freut sich, seit über zehn Jahren treffen wir uns immer hier.  Wir sind „Shok“ wie er immer betont, was auf Albanisch einen guten Freund meint. Langes Drücken ob des Wiedersehens. Jedes Jahr das selbe Ritual. Er sitzt vor der Taverne an der Straße, zusammen mit seinen Landsleuten,  die seit gefühlt ewiger Zeit mit ihrer Hände Arbeit und teils mit  merkantilem Geschick – den Wohlstand des Ortes mehren. Anfangs mit Hilfsarbeiten in der Apfelernte, dann mit Bauarbeiten, heute auch mit Geschäften und Handwerk. Unser Lieblingskellner entstammt schon aus der 2. Generation. Ein pfiffiger Typ, der perfekt Griechisch spricht, und Witz und Humor auf seiner Seite hat. Geboren in Albanien, seit 17 Jahren hier, Lehre zur Elektrotechnik gerade abgeschlossen. Er will nach oben: eine Zusatzausbildung zum Aufzugsmonteur  ist gerade sein Thema. Zurück zu Levtheris: beide verständigen wir uns auf schlechtem Griechisch, wobei Levtheris allerdings die wundervolle Gabe hat, einfach fehlende Worte durch phantasievolle Neubildungen zu ersetzen, die zuweilen mit Stirnrunzeln, zumeist aber mit großer Erheiterung quittiert werden. Den Rest gestaltet er mit ausdrucksstarken Grimassen, wie man sie seit Ende der Stummfilmzeit kaum noch kennt. Ein genialer Dadaist auf jeden Fall, seine Erzählungen sind absurd, ihr Wahrheitsgehalt niemals überprüfbar, aber witzig und bizarr. Und immer wieder heißt es: „Bisur !“ (Albanisch: Prost), und es folgt die gegenseitige Bestätigung, dass wir eben „Shok“ sind.

Niki ist  berühmt für ihre Fleischgerichte. Wir fragen, ob es Katziki (Ziecklein ) gibt, die sind gerade aus, aber es gebe „Trago“. Das sei der Vater von Katziki, der junge Kellner sagt, nein, es sei der ältere Bruder, nein, der Schwager,  usw. Immer mehr verdrehen sich im Spaß die Verwandtschaftsverhältnisse des Tieres, der Kellner bekommt Kicher- und Lachanfälle, verschluckt sich, muss nochmal reingehen, um sich zu beruhigen. Kommt wieder raus, bekommt Lachanfälle, wir liegen ohnehin halb unter dem Tisch, und bald lacht die halbe Taverne, ohne zu wissen, worum es eigentlich geht. Später kommt ein älterer Herr zu uns an den Tisch. Er wollte sich bedanken. Selten habe er so fröhliche, lachende Leute erlebt, das habe sein Herz geöffnet. Und wir hatten schon Angst, wir hätten uns daneben benommen.

Bei Niki in Zagora

Bei Niki in Zagora

Wir nehmen also den Trago. „Tragos“ bedeutet nämlich „Ziegenbock“. Trago, Bock, mundet übrigens köstlich. Das hatte ich nicht erwartet, denn man sagt gemeinhin, Ziegenfleisch würde nur in Form junger Milchziegen schmecken, Böcke wie unser Trago hingegen seien zäh, und das Fleisch würde stinken. Niki erklärt uns das Geheimnis: Man lässt das Fleisch sehr lange bei kleiner Flamme simmern, 5 Stunden lang, manchmal stünde das Fleisch auch den ganzen Tag im Ofen. So verliert es den Bocksgeruch und wird butterzart, es wird anschließend in einem zwiebelhaltigen Sud gewürzt, typisch sind neben Oregano und Thymian, vor allem Zimt und Koriander. Auch Zitrone gibt man hinzu, es gibt auch die Variante „Kokinisto“ auf der Basis von Tomaten.

 

Zu späterer Stunde, wenn fast ausschließlich Stammgäste im Saale sind, dreht die Stimmung noch einmal auf. Nun geht die Unterhaltung quer durch den Saal. Der eine neckt und provoziert den anderen, es gibt kaum Hemmungen, Jung und Alt ziehen sich gegenseitig mit ironischen Bemerkungen hoch, jeder kennt ohnehin jeden. An der Wand  blubbert der Fernseher vor sich hin, in einer Ecke sitzt die Wirtin über einem Berg Zettel, sie soll eine Hochzeit im Lokal organisieren, jetzt soll sie über das Handy skypen, ruft den jungen Kellner, „komm, drück doch nochmal den Knopf, damit ich sehen und sprechen kann“. Die Musikanlage spielt derweil alte Rembetiko-Musik aus den 20-er Jahren.  Natürlich werden ausreichend Mesedes konsumiert, wichtige Grundlage für die üblichen Getränke, vor allem Tsipuro (Tresterschnaps), Wein und diverse Biere. Natürlich redet man auch über ernste Dinge: beispielsweise die Apfelernte. Die fällt wohl dieses Jahr schlecht aus – im Frühjahr war es lange zu kalt und feucht, viele Blüten sind abgestorben. Für die Bauern und ihre zahllosen Erntehelfer ein herber Schlag.  Man kann für sie nur hoffen, dass sie an der Preisschraube drehen können. Immerhin sind sie schon seit Jahrzehnten in einer Genossenschaft organisiert, so dass sie gegen Großhändler und  Lebensmittelindustrie  mit einer Stimme sprechen können.
Den nächsten Tag durchstreifen wir den Pilion, seine Orte, das erklären die folgenden Bilder.

Kulinarisches Highlight an einem der folgenden Abende ist dann aber nicht Trago Bock, sondern ein Fisch namens Synagrida (Συναγριδα, Zahnbarsch). Am Vortag im Lokal „Sevach“ (Σεβαχ) in Chorefto (unterhalb von Zagora, am Meer) bestellt, wurde er von einem Fischer mittags vor der Nahe gelegenen Insel Skiathos gefangen und angelandet, dazu gemeinsam mit einem Haufen „Karavides“ (Kaisergranaten). Am Abend durften wir die Tiere noch einmal bestaunen, dann kamen sie in die Küche und auf den Grill. Wenige Zeit später das Ergebnis: Synagrida dürfte mit Abstand der beste Mittelmeerfisch  sein. Festes, weißes Fleisch, zartes Aroma, einfach Klasse. Die Kaisergranate als Vorspeise, dazu Vlita (gedünsteter Gemüseamaranth mit Zitrone in Öl)  und Salat:  ein Gesamtkunstwerk.  Die Preise sind am Ende  (Fisch ist grundsätzlich teuer) nicht einmal so gesalzen, wie befürchtet – sehr zu empfehlen jedenfalls, denn an anderen Orten im Pilion zahlt man für Tiefkühlfisch schnell mal das Doppelte.  Wichtig ist, dass man den Fisch vorbestellt – denn kein Wirt kann es sich leisten, solche Fische auf Verdacht „auf Lager“ vorzuhalten.

 

Manolis, der beste Koch

Den Beschreibungen des Hotelwirtes folgend,  finden wir das Lokal von Manolis ohne Schwierigkeiten, es befindet sich nach der in Dunkel gehüllten Tankstelle am Ortsausgang. „Niemand isst hier“, sagt meine allerbeste Reisebegleiterin von allen, und will mich überreden, lieber das „Kronos“ aufzusuchen. „Kommt gar nicht in Frage.“ Wir setzen uns an einen der wenigen freien Tische, beobachten die Gruppen, die an den Tischen sitzen, nichts zu Essen haben, an einem „Frappe“ nippen oder einfach nur Karten spielen. Schräg hinter uns hat eine Familie an einem blitzeblanken Tisch Platzt genommen, rechts gegenüber eine Gruppe ziemlich junger Studenten. Meine beste Begleiterin von allen will gehen. Da kommt der junge Wirt Manolis, breitet eine flatternde Plastedecke über unseren Tisch aus, befestigt sie mit den üblichen Stahlfederklammern am Tisch. „Wollt Ihr eher Wein oder Raki?“, fragt er. „Beides!“ sagen wir, woraufhin er wortlos verschwindet. Die sonst übliche Nachfrage, nach „rot oder weiß“  unterbleibt, und lässt auch nicht die übliche Gegenfrage zu, was es denn an Weißwein so geben, wie trocken, ob von hier, man mal erstmal probieren könne usw. Derweil sehen wir, wie sich Manolis am Nachbartisch niederlässt, ein längeres Gespräch mit der Familie führt, die immer noch auf dem Trockenen sitzt, dann ist er weg, nein, er sitzt bei einem anderen Tisch in der Tiefe des Lokals, dann ist er tatsächlich weg. „Gibt es hier überhaupt Essen?“, fragt meine Begleiterin, „offenbar schon, sieh mal dahinten, in der Küche wird etwas umgerührt“. Es erscheint eine blonde Dame, stellt uns etwas Weißwein, ein Fläschchen Raki und eine nicht unbeträchtliche Menge an Vorspeisen hin, alles vegetarisch, sehr lecker, beispielsweise Anthous jemistous (gefüllte Zucchiniblüten mit Reis und Kräutern). Haben wir nicht bestellt, aber das gehört in vielen Gegenden zum Programm, zum bestellte Wein/Schnaps werden Mesedes serviert, irgendwelche. Das ist alles total OK, das sollte man auch kennen, aber wenn in der gefühlten folgenden Stunde weiter nichts passiert, wir auf dem Trockenen sitzen, Winke an das Personal derart ignoriert werden, als seien wir Marsmännchen, dann stimmt etwas nicht. „Die sind Gesundheitsapostel, Fleisch gibt es hier nicht, und Alkohol wird hier rationiert“ bekomme ich zu hören, und die Studentengruppe, die schräg gegenüber geduldig sich zwei Flaschen Bier teilt, macht eben den selben Eindruck. Eine Gesundheitssekte? Wir versuchen, die blonde Kellnerin mit der markanten Figur einer jungsteinzeitlichen Kykladenskulptur (dieses Modell flacher Geigenkasten mit breiten Hüften) zu kontaktieren. Es ist unmöglich. Sie ignoriert uns, während wir Manolis immer wieder einmal fröhlich schwatzend am Tisch anderer Gäste ausmachen können. Wir machen ein Experiment, es dient vor allem dazu, uns unserer Existenz in dieser Welt zu versichern. Behutsam und unauffällig schieben wir einen Stuhl in den Kellnergang, den die Kykladenskulptur nehmen muss. Behende schwingt sie mit ihren Hüften den Stuhl zur Seite, ohne uns eines Blickes zu würdigen. Ein gekonntes Zirkusstück. Nun wollen wir es wissen. Die dunkelhaarige Dame, die in den Töpfen gerührt hat, ist Ziel eines Direktangriffs. Ich bitte sie um Nachschub. Nickend nimmt sie die Bestellung entgegen. Es stehen auf einmal diverse Leckereien auf dem Tisch. Wunderbar gekochte und gewürzte Fleichstücke, Mesedes, Wein, Raki. Alles so fein und ein Träumchen, wie der Hallenser zu sagen pflegt. Dann passiert wieder  nichts. Auf dem Gang zur Toilette passiere ich einen der Tische, an denen sich  Manolis gerade niedergelassen hat. Freudig begrüßt er mich mit Handschlag. Ob alles klar sei? Ja, wunderbar, ein paar Früchte noch, dann würden wir gerne zahlen. Nachdem wir die allerhand wirklichen Köstlichkeiten, die nach und nach unseren Tisch passiert haben, genossen haben, erscheint Manolis, stellt eine große Karaffe Wasser auf unseren Tisch, deren Inhalt sich dann als hochprozentigen (und ziemlich guten) Raki  entpuppt, einen guten Liter Wein, und eine merkwürdig gestaltete Wurst.

InnereienWurst

Die Wurst des Manolis

Wir unterhalten uns über dies und das, die Wurst ist ein Gedicht (etwas aus Innereien, wirklich wunderbar) und, auf die Frage, ob er uns die Rechnung machen könne, sieht er uns mit wunderschönen großen Augen an. „Rechnung? Wollt Ihr was zahlen?“ Nun ja, schon, wir loben seine Küche, den Raki, Tsermiado als Ort und Kreta im Allgemeinen, aber er  kann zu so später Stunde damit nichts anfangen. Wir schlagen ihm einen runden Preis vor, „nun ja, wenn ihr wollt“ sagt er.

Unser Hotelwirt hat uns wenigstens am nächsten Morgen aufgeklärt. Das stumme Personal kann kein Griechisch, es stammt aus Prag, mit Ausnahme Manolis.  Aber unter seiner  Aufsicht – wenn er sie denn hat – entsteht das beste Essen von Kreta. Das können wir bestätigen.