Am noch sonnenbeschienenen Strand in Agiokampos werden die Liegestühle abgebaut. Das Wetter ist unruhig geworden. Nachts zucken Blitze über dem Meer, auch regnet es mal.
Es ist eigentlich noch Badewetter, doch jetzt lockt es in die Berge, wo ein ein seltsames Schauspiel stattfindet. Wie dunkle Baumpilze heften sich hier die Wolken an die Hänge, hüllen die Gipfel ein, schwer, manchmal fast schwarz hängen sie dort. Aufziehenden Nebel saugen sie auf.
Wir, die mit unserem klapprigen Auto, von Agia aus über Megalovriso und Anatoli kommend, weiter hinauf in die über tausend Meter hohen Berge hineinfahren, mitten hinein in die Wolken, bald darinnen, bald darüber, werden plötzlich von Regengüssen überschüttet. Es ist ein Wechselspiel wie in der Waschstraße, nach dem Regen kommt wieder der Föhn, plötzlich freie Sicht, und dann kommen die Bürsten: Äste, die das Auto schrubben, und weshalb man besser das Fenster geschlossen hält. Tiefe Erosionsrinnen und Schlammlöcher erfordern Mut, und etwas Waghalsigkeit. Denn hier mit einem Schaden liegen zu bleiben, ist eine Vorstellung, die man besser ausblendet. Nebel, Regen, finsterer Wald, dann wieder Sonnenschein und Blick aufs Meer. Und jede Menge Pilze.
Schon Anfang September hatten wir die ersten Pilze auf einer Wiese auf einer Waldlichtung bei Polydendri gefunden. Sie sahen aus der Ferne aus wie Parasolpilze (Macrolepiota procera), so hochbeinig und groß, wie sie da standen. Es sind aber keine. Aus der Nähe betrachtet, fallen dann die stachligen Schuppen auf, auch die wulstige Stilbasis als auch das fest am Stiel anhaftende Velum wirkte merkwürdig und führt eher in die Gattung der Amanita – Wulstlinge, wozu die giftigsten und schmackhaftesten Arten gehören. Es waren Sammler vor uns da, haben sorgfältig, wie es umweltbewusste Pilzsammler tun – die Stile mit dem Messerchen abgeschnitten, und nicht etwa einfach rausgedreht oder abgebrochen.
Nach längerer Recherche in Pilzforen und intensivem Mailaustausch mit Pilzfreunden wurde mir erst klar, um was für einen Pilz es sich handelt.
„Amanita solitaria oder syn. Amanita echinocephalea“, igelstacheliger Wulstling heißt der Kandidat. Er gilt als ausgesprochen selten, und in Pilzbüchern wird er als „nur einzeln auftretend“ beschrieben (Deshalb auch das Artepitheton: solitaria“). Hier auf der Bergwiese ist er ein Massenpilz.
Bislang galt er als wenig schmackhaft, neuerdings wird er unter die Giftpilze eingereiht, da er schwerste Nierenschäden verursachen kann.
Man sollte sich als Pilzsammler im mediterranen Raum eben nicht auf deutsche Pilzbücher verlasen. Fehlbestimmungen sind hier schon deshalb gefährlich, weil es hier Arten und subspecies gibt, die in den gemäßigt mitteleuropäischem Klimaten nicht vorkommen.
Der größte Glücksfall und Traum jedes Pilzsammleres ist natürlich der „Kaiserling“, als „Amanita caesarea“ auch der großen Gattung der Amanita (Wulstlinge) angehörig. In der Antike galt dieser Pilz als der wertvollste und schmackhafteste überhaupt, und da immer die Gefahr bestand, den Pilz mit giftigen Wulstlingen (etwa Knollenblätterpilzen) zu verwechseln, behielten sich römische Kaiser vor, diesen „Boletus“ (Ein Name, der wissenschaftlich später irrtümlich auf steinpilzartige Röhrenpilze überging), lieber selber zu sortieren und zuzubereiten. In Deutschland besteht indes kaum Gefahr, den Pilz zu verwechseln, obwohl er mit seinem leuchtend orangeroten Hut dem sehr ähnlichen Fliegenpilz ähnelt, besonders dann, wenn letzterem die weißen Pünktchen im Regen abhanden gekommen sind. Wichtiges Unterscheidungsmerkmal sind die gelben Lamellen, die nur der Kaiserling hat. In Deutschland gilt der Pilz als nahezu ausgestorben, er steht auf der roten Liste. Ihn zu sammeln, ist streng verboten. Es wäre eine der Straftaten, gegen die es in Deutschland ein Gesetz, aber keine Begehungsmöglichkeit gibt. Der Pilz soll einst auf den Routen der alten Römerstraßen eingewandert sein, möglicherweise gibt es ihn aber auch schon dort gar nicht mehr.
Wir fanden ihn zufällig unter Esskastanienbäumen auf dem Weg zwischen Nivoliani und Selitsani. Es sah aus, als hätte jemand übergroße Spiegeleier auf die Erde gelegt. Hier, in Thessalien, ist Amanita Caesarea zwar auch selten, aber nicht geschützt, und trotz unseres beherzten Zugriffs nicht vom Aussterben bedroht.
In der Pfanne färbt er die Butter orangegelb, der Geschmack ist fein, leicht muskat- bis anisartig, im Biß ist er dennoch fest. Ist schon recht, dieses Ding Kaiserling zu nennen.
Wer Massenpilze finden will, muß uns dann aber noch weiterhinaus in die Berge folgen. Oberhalb von dann Selitsani gibt es ein Wegeschild, das zum Gipfel des Kissavos weist. Wenn man dann in die dunklen Wolken eintaucht, gerät man erst auf nahezu baumlose Ziegenwiesen, wo man Champignons aller Arten findet. Dann wird der Weg fast unpassierbar, und man findet sich in dichten Buchen- und Eichenwäldern wieder.
Gelegentliche Schlamm- und Wasserlöcher geben den Weg erst frei, wenn man sie abgräbt, und ihre Fluten zu Tale rauschen läßt. Der Wald ist tropfnass, und überall finden wir Pilze. Vor allem das, was wir heute wissenschaftlich Boletus ssp kenne, also keine Kaiserlinge, sondern vor allem Steinpilze, gelegentlich Maronen, die hier oft in Tschernobyl-Größe heranwachsen. Man muß nicht einmal aussteigen. Sie stehen am Wegesrand, und ein hübsches Exemplar von Steinpilz hätten wir beinahe überfahren. Er stand mitten auf der Schlammstraße. Echte Riesenschirmlinge gibt es bis zum Abwinken, auch gelegentlich Edelreizker. Einige Kilo nehmen wir mit, die nächsten Tage essen wir Pilze, bis zum Abwinken, aber die große Masse bleibt im Wald stehen, das Bücken lohnt nicht.
Zurück führt die Strasse über Agios Elias (liegen lassen) bis zum Abzweig „Anatoli-Karitsa“ auf den Weg zwischen Megalovriso- Anatoli.
Die Pilze lassen sich auch in umgekehrte Richtung erreichen. Also Nivoliani – Richtung Selitsani fahren, auf halbem Wege dem Schild rechts nach Karitza folgen, dann den Abzweig zum Bergpropheten links liegen lassen, weiter gerade aus. Wenn dann die Straße von Schotter und Eichenwald in Schlamm und Buche übergeht, dann gibt’s Pilze. Zu ungenau? Genau. Wahre Pilzfreunde verraten ihre Stellen halt nicht.
Glücklicherweise haben Pilze in Griechenland bei den meisten Einheimischen nicht den Stellenwert wie Meeresfisch. Nur so erklärt sich, dass die Wälder voll davon sind, während das Mittelmeer leergefischt ist. Aber es ist nicht so, dass sie sich nicht auskennen würden. Davon zeugen eben doch die Schnittspuren, die eindeutig von mit kundiger Hand geführtem Messerchen her rühren.