Die Casa Bianca – Traumhafte Villa mit finsterer Geschichte

Die Villa in reinstem Jugendstil steht im Viertel „Exarchon“, einem ehemaligen Außenbezirk der Stadt Thessaloniki. Man komm an ihr vorbei, wenn man vom Flughaffen aus dem Westen kommend sich der Stadt nähert. Die ehemalige Villengegend der gehobene Bürgerschicht ist mittlerweile stark von modernen Bauten der Stadt zugewachsen, hin und wieder trifft man hier zwischen mehrstöckigen Hochhäusern aus den 1970er Jahren noch in Lücken auf die ursprüngliche Bebauung. Eine davon ist die Casa Bianca, die heute die städtische Pinakothek berbergt. Gebaut wurde sie 1911 – 1913 nach Plänen des italienischen Archititekten Pietro Arrigoni (Arrigoni ist übrigens auch einer der vielen Architekten, die nach 1917 am Wiederaufbau der Stadt mitwirkten – und in den 1920ern viele Neubauten in einer eigentlich nicht mehr zeitgemäßen Stilrichtung hinterließ). Eigentümer war der jüdische Italiener Dino Fernandes Diaz, ein Großhändler und Bankier. Seine Frau war die Französin Blanche (Bianca) de la Mayer. Die Eheleute hatten drei Kinder, Alina, Nina und Pierre. Blanche starb 1934 in Paris. Vater Dino und Sohn Pierre und dessen Familie flohen vor dem Einmarsch der Deutschen nach Italien, dessen Staatsbürgerschaft sie besaßen. Sie zogen an den Lago Maggiore, wo sie nach dem deutschen Einmarsch dort von Deutschen aufgegriffen und ermordet wurden.

Die Villa in Thessaloniki wurde von deutschen Truppen zum Gebrauch für die Militärverwaltung beschlagnahmt , Nach der Befreiung zog Tochter Aline hier wieder ein, wo sie 1965 starb. Nach weiteren Besitzerwechseln und Konflikten mit der Denkmalbehörde gelangte das Haus riet das 1976 in den Besitz des Ministeriums für Bildung und Kultur.

Heute beherbergt die Villa städtische Pinakothek. Diese verfügt über mehrere Sammlungen, die übverwiegend auf Stiftzungen zurückgehen. So verfügt man über eine Sammlung neugriechischer Malerei, die Sammlung des Jugendstilmalers Nikolaus Gysis,(der die meiste Zeit seines Lebns in Bayern und Tirol wirkte), eine Lithografiesammlung, eine Karrikaturensammlung und eine Skulpturensammlung.

Zur Zeit (September 2022) sind diese Werke nicht zu sehen, statt dessen wird hier einen Ausstellung mit Werken des deutschen Künstlers findet eine Sonderausstellung des Düsseldorfer Künstlers Bernd Schwarzer statt. Der Titel lautet „Europawerk“ und zeigt vornehmlich Gemälde zur Politik Deutschlands und Europas. Bernd Schwarzer liebt es, Ölfarben mit dickem Spachtel verschwenderisch aufzutragen, seine Werke sind oft mehr farbige Reliefs denn Ölgemälde im klassischen Sinne. Seine bevorzugten Farben sind blau und gelb – was keinen Bezug zur Ukraine darstellt, sondern die Europaflagge aufgreift.

Die Ausstellung wird vom deutschen Außenministerium gefördert. Es gibt auch zwei dicke Kataloge zu erwerben, leider ist in einem (erschienen 2008) ein Vorwort von Gerhard Schröder enthalten.

Der Besuch des Hauses lohnt auf jeden Fall – und im Garten sitzt man angenehm im Schatten unter Bäumen, ein Gastronomiebetrieb sorgt hier für Erfrischungen und auch Kleinigkeiten zum Essen.

Moderne Architektur aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Thessaloniki nach dem Brand von 1917

Die schwarz gezeichneten Flächen waren 2017 vom Brand betroffen

Auch wenn die unmittelbaren Folgen des Großbrandes von Thessaloniki (Hier gibt es einen Youtube-Film über die Katastrophe) heute, nach über 100 Jahren, kaum noch erkennbar sind, ist das Ergebnis des ziemlich rasanten Wiederaufbaus ab 1918 heute noch allgegenwärtig. Nachdem die Regierung unter Ministerpräsident Eleftherios Venizelos den Wiederaufbau der Stadt nach altem Muster strikt untersagt hatte, suchte man nach einem Generalplaner, der der Stadt sowohl einen neuen Grundriss als auch ein „Corporate Design“ verpassen sollte. Die Altstadt von Thessaloniki gleicht heute einem Lehrbuch europäischer Architekturgeschichte der Zeit nach dem ersten Weltkrieg.

Dass die Stadt heute so „französisch“ wirkt, hat nicht nur damit zu tun, dass das griechische Bürgertum zu dieser Zeit stark nach Frankreich orientierte war. Der französische Charakter hat auch eng mit der Person des einberufenen Stadtplaners zu tun, dem Architekten und Archäologen Ernest Hébrard .

Wiederaufbaukommission für Thessaloniki. Der Mann in der Uniform ist Ernest Hebrard

Hebrard plante einen Grundriss auf Basis eines breiten, rechtwinkligen Straßenrasters. In der Mitte führt eine Hauptachse aus einer Folge von Monumentalen Plätzen die sanfte Anhöhe hinauf. Hier hat Herbrard auch selbst Bauten hinterlassen: Die Bauten im einem verhaltenen „Neobyzantinischen“ Stil (Hebrard selbst konnte sich Zeit seines Lebens nie so richtig vom Historismus lösen) , die den Aristotelos-Platz formen, gehen auf seine Entwürfe zurück. Endgültig fertig gestellt wurden einige dieser monumentalen Mehrgeschosser erst in den 1950er Jahren. Im weiteren Umfeld des Platzes konnten sich viele Architekten und Bauherren stilistisch austoben – wenn sie sich an den neuen Stadtgrundriss und Geschosshöhen hielten.

So findet man die verschiedensten Stilrichtungen -. und natürlich Mischformen – der Architekturströmungen der 1920er bis 1930er Jahre wider. Man findet Bauten, die sich grob als “ Art déco“ bezeichnen lassen, wobei hier oft deutliche Anleihen und Einflüsse von Bauhaus, aber auch Jugendstil erkennen lassen. Einige der Bauten wirken auch älter, als sie sind. So gibt es durchaus auch Fassaden, die man eher noch dem französischen Fin de Siècle zurechnen würde. Nicht jeder Bauherr war wohl nach der Katastrophe gleich neuesten Architekturmoden zugetan.

Ein Spaziergang durch Thessalonikis Altstadt mit einem Blick nach oben auf die Fassaden lohnt sich allemal. Aber Vorsicht: auch in Thessaloniki folgt die Pflasterung der Bürgersteige griechischem Standard: Alle zehn Meter muss man mit Bodenwellen, Schlaglöchern und geöffneten Kellerluken rechnen.

(Mehr über Thessaloniki gibt es hier und hier und da.)

Und eine großartige informative Seite – allerdings nur griechisch – zur Architektur der Neubauten findet man hier. Eine Vielzahl von Gebäuden ist hier mit Foto aufgelistet und mit umfassenden Beschreibungen zur Geschichte versehen.

Das jüdische Museum in Thessaloniki

Eingangsportal des Museums

Die ersten Juden sollen befreits im 2. Jahrhundert vor Christus sich in Thessaloniki angesiedelt haben. 250 Jahre später soll der christliche Apostel Paulus auch hier in der Synagoge seine Missionspredigt gehalten haben. Während des Mittelalters bleib der Anteil jüdischer Einwohner in der überwiegend christlich-orthodoxen Stadt zunächst niedrig, ab dem 14. Jahrhundert sollen jedoch schon verstärkt aschkenasische Juden aus Ungarn und sephardische  Juden aus Spanien nach Thessaloniki eingewandert sein. 1430 wurde Thessaloniki von den Osmanen erobert, vorherrschend war nun der Islam, der neben dem Christentum die Hauptreligion in der wachsenden Stadt wurde. Viele christlich – orthodoxe Kirchen wurden in Moscheen umgewidmet. Gerade in dieser Zeit aber wuchs die jüdische Bevölkerung plötzlich sprunghaft an: Grund war die Einwanderungspolitik des türkischen Sultan Bayezid II. Ab 1492 hatte er den aus Spanien von der katholische Kirche vertriebenen Juden die Möglichkeit eröffnet, sich sich im Osmanischen Reich anzusiedeln. Neben Istanbul und Smyrna wurde Thessaloniki neue Heimat vieler sephardischer Juden. Aber auch aus anderen Gegenden Europas siedelten sich Juden in Thessaloniki an, gründeten eigene Gemeinden, die lange Zeit ihre Herkunftskultur und Sprachen pflegten. Schon um 1520 sollen mehr mehr als die Hälfte der Einwohner Juden gewesen sein. Hintergrund der Einwanderungspolitik war wohl weniger religiöse Toleranz der muslimischen Herrscher, sondern kühle Berechnung: das Prinzip der Dhimma garantierte Juden (und auch Christen, also allen „Konkurrenzreligionen“, die im Besitz der alten heiligen Schriften waren) Schutz gegen eine finanzielle Gebühr.

Um 1900 zählte Thessaloniki 173.000 Einwohner, etwa 80.000 von ihnen, also fast die Hälfte, waren Juden. Neben zumeist christlichen Griechen leben hier unter anderem auch Bulgaren und überwiegend muslimische Türken. Noch gehört Thessaloniki zum osmanischen Reich. In der Stadt entwickelte sich eine reges kulturelles und wissenschaftliches Leben – es gibt nicht nur eine Vielzahl von Synagogen, sondern auch Jüdische Schulen, Bibliotheken und Zeitungen und Verlagshäuser. Thessaloniki war ein der bedeutendsten Metropolen jüdischen Lebens geworden. Zwar stellte auch der neue christliche Staat alle Ethnien und Religionsgemeinschaften gleich, aber 1917 wurden insbesondere Juden von einer Katastrophe getroffen, von der sich die Gemeinden lange nicht erholten: vom 18. bis zum 19. August tobte in der Stadt ein Großbrand, dem ein großer Teil der Altstadt, besonders aber die jüdischen Viertel, zum Opfer fiel. Ewa 9500 Häuser wurden zerstört und mehr als 70.000 Menschen obdachlos, besonders betroffen waren Juden.


Auch der zügige Wiederaufbau der Stadt führte dazu, dass etliche Juden die Stadt verfließen: unter dem französischen Architekten Stadtplaner und Archäologen Ernest Hebrard sollte die Stadt auf überwiegend modernem Grundriss wieder aufgebaut werden. Dazu wurden die alten Grundstücksbesitzer enteignet und mit einem komplizierten Gutscheinsystem auf neue Grundstücke entschädigt. Diese Optionsscheine waren aber frei verhandelbar, viele mittel- und erwerbslos gewordene Einwohner versetzten die Scheine gegen Geld und Lebensmittel, und waren so um ihre Grundstücke und Lebensperspektiven in der Stadt gebracht.

Stadtplan von Thessaloniki heute. Rot eingezeichnet die Lage der Grundstücke vor 1917 (Jüdisches Museum). Schwarze Punkte geben die Lage der Synagogen an, die vor 1567 gegründet wurden, weiße Punkte diejenigen nach 1567

Dennoch zählte die jüdische Gemeinde bald vor dem II. Weltkrieg wieder 53.000 Mitglieder. Das unfassbare Grauen geschah dann 1941 mit dem Überfall Hitlerdeutschlands auf Griechenland . Nur wenige Juden – das italienische Konsulat schätzte ihre Zahl auf etwa 1200 – schafften es, aus der Stadt vor dem Überfall Nazi-Deutschlands zu flüchten. Die anschließenden Gräueltaten und Verbrechen Nazi-Deutschlands an den in Thessaloniki verbleiben Juden sind eines der bekannten Kapitel der Shoah, der Massenvernichtung der Juden durch Hitler-Deutschland, ausgeführt durch SS und Wehrmacht. Nur etwa etwa 1950 von ursprünglich 51000 jüdischen Einwohnern überlebten Zwangsarbeit, Deportation und Konzentrationslage. Noch heute wird auch die Beteiligung des damaligen Wehrmachtsoffiziers späteren österreichischen Bundeskanzlers Kurt Waldheim an diesen Verbrechen diskutiert.

Jüdisches Museum als Stadtmuseum

Das Jüdische Museum im Hafenviertel besteht in seiner jetzigen Form seit 2001. Es liegt in einem einem ehemaligen Bürogebäude der Banque of Athens. Es ist Teil eines längeren zweigeschossigen Komplexes, der 1904 errichtet wurde. Nur etwa die Hälfte dieses Gebäudes mit einer neoklassischen, Fassade mit neobarock-französische Stileinflüssen ist renoviert und beherbergt das Museum, die linksseitige Hälfte ist nach wie vor dem Verfall preisgegeben. Vor dem Gebäude ist in einem Wachhäuschen die Polizei postiert, aus verständlichen Gründen erreicht man die Rezeption nur durch eine Sicherheitsschleuse.

Im Erdgeschoss ist ein Gedenkrum eingerichtet, ähnlich wie in Yad Vashem, lediglich in kleinerem Format erinnern hier auf schwarzem Marmor eingravierte Namen an die bekannten Opfer des Holocausts – ein Teil der letzten Tafel ist frei gehalten, er wird laufend ergänzt. Während unseres Besuches versuchte eine Familie aus Israel gerade, ihnen bekannte Familiennamen auf den Tafeln zu entziffern. In einem Video läuft das ergreifendes Interview mit einem Überlebenden, in dem Dokumentarfilm (Ivrit mit griechischen Untertiteln) berichtet Owadjah Baruch (Hier gibt es den Film auch mit deutschen Untertiteln bei Youtube, produziert von der Gedenkstätte Yad Vashem) über seine Kindheit in Thessaloniki, seine Verhaftung 1943, die Zwangsarbeit in einer Munitionsfabrik der Organisation Todt, wie seine gesamte Familie in den Gaskammern der Nazis getötet wurde, sein Überleben im KZ Auschwitz und sein weiters Leben in Israel. Berührend: im KZ traf Owadjah seine spätere Frau Alisa Zarfati, ebenfalls aus Thessaloniki deportiert. Trotz der furchtbare Umstände entstand eine Liebesbeziehung, in Israel heirateten sie und begannen ein neues Leben.

Stanzmaschine zur Herstellung von „Judensternen“

Das jüdische Museum ist viel mehr als eine Holokaust-Gedenkstäte.

Die Ausstellungsmacher haben das Museum nicht auf eine Gedenkstätte jüdischen Schicksaals und des Holocausts reduziert. Vielmehr wird die jüdische Geschichte als selbstverständlicher und elementarer Teil der Stadtgeschichte Thessalonikis präsentiert., das jüdische Museum wurde so zum eigentlichen stadthistorischen Museum.

Schade ist das das etwas altbackene Design der Ausstellung. Dass man, um Geschichte zu erzählen, auf Flachware (gedruckte Texte, alte Fotos) angewiesen ist, mag dem Mangel an Exponaten geschuldet sein. Leider wird auch dort, wo Realien gezeigt werden, nach einem Schema verfahren, das eben in europäischen Museen traurigerweise zu oft zu beklagen ist: Objekte in die Vitrine, Glaswürfel mit Nummer daneben, irgendwo gibt es dann einen Text zur Nummer. Das ist bedauerlich, aber in fast allen Museen in Griechenland so.

Produkte jüdischer Firmen aus Thessaloniki

Selfies mit Atatürk

An einem nicht bekannten Tage im Jahre 1881 kommt in einem gut bürgerlichen Haus in Thessaloniki der  kleine Muṣṭafâ zur Welt. Die Vielvölkerstadt Thessaloniki (türkisch „Selanik“) ist damals eine der wichtigsten Handelsmetropolen im osmanischen Reich und gleichzeitig auch das Tor zum Westen.  Hier wird Griechisch,Türkisch, Bulgarisch, Albanisch und vor allem auch Ladinisch, die Sprache der spanischen Juden, gesprochen. Thessaloniki ist nicht nur mehrsprachig, sondern es leben auch viele Religionen friedlich nebeneinander: Juden, Christen und Muslime. Im Hause des kleinen Mustafa wurde, so viel weiß man, türkisch gesprochen. Mustafas Vater nannte sich Kızıl Hafız Ahmed Efendi, seine Mutter Zübeyde Hanım.  Der Vater war einmal Beamter für religiöse Stiftungen, dann Zollbeamter, zuletzt war er auch als Holzhändler tätig. Der kleine Mustafa hatte es in seiner Kindheit nicht leicht – und seine Eltern wohl auch nicht mit ihm. Die Koranschule, auf die ihn seiner Mutter schicken wollte, lehnte er ab, und überzeugte  seinen Vater, ihn auf eine weltliche Privatschule zu schicken. Nach vielen Brüchen und familiärem hin und her bestand er die Aufnahmeprüfung auf einer militärischen Mittelschule in Thessaloniki, die er als Viertbester seines Jahrgangs abschloss. Es schloss sich eine ziemlich wüstes Leben als Student an einer Militärakademie an – der übermäßige Genuss von Tsipuro oder Raki (einem Tresterschnaps) soll ihn ein Leben lang gezeichnet haben, die Geheimdienstakten vermerken auch den häufigen Besuch von Prostituierten. Von wem ist die Rede? von niemand Anderem als Mustafa Kemal „Atatürk“, dem legendären, und vielfach geradezu verklärten Begründer der modernen, säkularen Türkei, dessen Vermächtnis aktuell so bedroht ist, wie wohl seit langem nicht mehr. 

20160901_Thessaloniki Atatürks Essbesteck

Kam mit silbernem Löffel auf die Welt: Mustafa Kemal Atatürk

Das repräsentative Haus in der Apostolou-Pavlou-Straße 17 ist frisch restauriert und gehört heute dem türkischen Staat, es befindet sich auf dem von hohen Stahlgitterzäunen gesicherten Gelände des türkischen Konsulats. Es nennt sich Museum, ist aber eher eine Art Verehrungsstätte, die vorwiegend von türkischen Touristen besucht wird.

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Mustafa Kemal Atatürks Geburtshaus in Thessaloniki: ein typisches, osmanisches Bürgerhaus aus der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts.

Mit vielen  vorwiegend jungen Türken und Türkinnen stehen wir Schlange vor dem Eingang, passieren Sicherheitsschleusen, lassen uns vom Wachpersonal anherrschen, unsere Namen nicht auf Griechisch in das Besucherbuch einzutragen („No Greek please, can not read that“). Eines fällt bei dem großen Andrang auf: niemand trägt Kopftuch, auch sonst gibt es nirgendwo religiösen Symbole, angesagt sind aber rote T-Shirts mit weißem Stern und Halbmond. Im Haus sind Devotionalien hinter dichten Panzerglasvitrinen ausgestellt: Kemals silbernes Essbesteck, viele Reliquien aus seinem Leben. Die Ausstellung ist schon eine sehr tendenziöse Darstellung der türkischen Geschichte.  Wachsfiguren von Kemals Eltern bereichern die Szenerie. Das  Allerheiligste ist aber der Raum im Obergeschoss, wo Kemals Wachsfigur auf einen dicken Ledersessel regiert. Hier herrscht gewaltiges Gedränge. Junge Mädels rücken ihre Frisur zurecht, ziehen nochmal den Liedstrich nach, dann zücken sie das Handy um Selfies mit ihrem wächsernen Nationalhelden zu machen: Atatürk als Facebookstar.

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Fische, frühes Christentum, Markthalle und die ältesten Kirchen: an einem Vormittag quer durch Thessaloniki

Thessaloniki, den 1. September

Schon im 7.Jahrhundert nach Christus, wahrscheinlich schon gegen 620 n.Ch, wurde die gewaltige Kirche „Aghia Sophia“ (αγια σοφια) in Thessaloniki errichtet. Wie ihre Namensschwester, die berühmte Kirche in Konstantinopel (Istanbul) ist sie der heiligen Sophia geweiht. Während im Westen in den „dunklen Jahren“ der Völkerwanderung kaum imperiale Architektur entstand – dies auch schon mangels entsprechender staatlicher oder klerikaler Organisation – befinden sich die Metropolen des oströmischen Reiches in einer ersten großen Blütezeit. Hier lebt die Baukunst der Antike bruchlos weiter. Die Aghia Sophia ist ein bemerkenswertes Bauwerk. Byzantinische Kunsthistoriker kommen aus vielen Gründen nicht um diese Kirche herum. Mit der Kirche, deren abweisenden Westfassade wir uns nähern, und vor deren Hof Kinder in der Mittagssonne Bälle bolzen, wurde die „Kreuzkuppelkirche“ erfunden. Dieser Bautyp ist bis heute die am meisten gebaute Form des orthodoxen Gotteshauses. Der Grundtypus lässt sich etwa so erklären: In einen quadratischen Raum werden vier Pfeiler oder Stützen eingestellt, die ein inneres Quadrat markieren. Die Säulen des Inneren Quadrates werden mit vier Bögen überspannt, von ihnen ausgehend erstrecken sich kreuzweise vier Tonnengewölbe zu den Außenwänden. Das innere Quadrat erhält zwischen den Bögen vier sphärische Dreiecksgewölbe (Pendentivs), über den sich nun ergebenden zentralen Kreis errichtet man eine Kuppel. Nun bleiben noch die kleinen Quadrate in den Ecken übrig – die werden mit kleinen Kreuzgewölben überdeckt – das Ganze ergibt dann das Raumprinzip. Im Osten baut man nun eine Apsis an, im Westen einen Vorraum, den „Narthex“. In der Aghia Sophia in Thessaloniki ist dieser Narthex hufeisenförmig um dreiviertel des zentralen Gottesdiensraumes herum gezogen, das ist die einzige Besonderheit. Was dabei entsteht: Ein Raum, der in sich ruht, keine Richtung hat, wenn man von der Apsis absieht, den Chroraum, der aber bald mit einer Schranke abgesperrt wird. Diese Bauweise hat eine besondere Wirkung: Die zentrale Kuppel scheint auf den zarten Pfeilern zu schweben, es bildet sich ein Raum im Raum,wie ein Baldachin, der von den Fenstern der Anräume „magisch“ beleuchtet wird. Das ergibt den Eindruck geradezu transzendenter Leichtigkeit, die Gesetze der Schwerkraft erscheinen aufgehoben. In den meisten späteren byzantinischen Kirchen wird dann im zentralen Kuppelgewölbe der „Pantokrator“, Christus als Herrscher der Welt, dargestelllt. In Thessaloniki folgte man einem sehr frühen Bildprogramm: Hier tragen Engel (erhalten sind die Flügel) den thronenden Christus empor: Es ist die Himmelfahrt. In einem Kranz darunter stehen, radial angeordnet, Maria und die Apostel, die dem Schauspiel beiwohnen. In den Zwickeln der Pendentivs sind Engel dargestellt – möglicherweise eine Anspielung auf alttestamentarische Beschreibungen des alten Tempel Salomons. Wir blicken hier auf die frühesten Mosaiken nach dem Bilderverbot, sie datieren wohl die Mitte des 9. Jahrhunderts.

Während sich in den Kirchen des Westens der Blick gen Osten richtet, in den Chor, orientiert sich der gebaute Raum der Ostkirche auf den über ihr schwebenden Pantokrator, den Weltherrscher, der in dem gebauten Kosmos eine Orientierung vorgibt: da kann der Pfarer noch so sehr vor dem abgeschrankten Altarraum gen Osten Zeremonien abhalten. Byzantinische Zentrallbauten sind ein Abbild des Kosmos, und der ist Oben, kennt nicht Ost und West, nicht Nord und Süd.

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Kuppelmosaik Aghia Sophia Thessaloniki

Für Kunsthistoriker, die sich der spätantiken und byzantinischen Kunst verschrieben haben, ist die Aghia Sophia in Thessaloniki ein „Leitfossil“. Auch im Detail: die Ausformung ihrer Kapitelle zeigt, wie frei man mittlerweile mit dem überlieferten antiken Formenkanon spielt: So gibt es „Windstoßkapitelle“, bei denen die Akanthusblätter des ehrwürdigen korinthischen Kapitells wie von einem Herbststurm zur Seite geweht und umgebogen sind.

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Säule mit Windstoßkapitell

Das  Äußere der Kirche erscheint dagegen unscheinbar. Frühchristliche und byzantinische Architektur ist „introvertiert“, sie entwickelt sich von innen nach außen. So zeigt die Kirche nur das rohe Ziegelmauerwerk, einst war sie wenigstens verputzt, aber es bleibt ein unscheinbarer Klumpen Steine, der Gestaltungswille würde allenfalls einem Weltkriegsbunker zu Ehre gereichen. Prachtentfaltung geschah im Inneren.

Wen Architekturgeschichte nicht anspricht, dem sei in den heißen Tagen dennoch ein Besuch der Kirche zu empfehlen. Die angenehme Frische erkalteten Weihrauchduftes ist  auch ein Argument.

Rings um die Kirche gibt es etliche Straßencafes, wo man frisch gepressten Orangensaft oder selbstgemachte Zitronenlimonade ebenso genießen kann wie kalten Kaffeesorten z.B. „Fredo“ in hunderten Varianten oder den etwa aus der Mode gekommenen Klassiker „Frappe“.
Nicht weit entfernt ist die Rotonda.

Rotonda, Aghios Georgios: Älteste Kirche der Welt.

Der gewaltige römische Rundbau mit seiner zentralen Kuppel wurde ursprünglich kurz nach 300 n. Ch. als Mausoleum für den Tetrarchen Galerius errichtet, oder aber als Tempel des Zeus, oder der kabirischen Götter (zu letzteren später mehr, auf Samothraki). So genau weiß man das nicht. Sicher ist: Schon im Jahre 326 wurde das Gebäude in eine christliche Kirche umgewandelt – es ist damit die älteste, noch funktionierende Kirche der Welt. Auch die Mosaiken, die wahrscheinlich in das frühe 5.Jahrhundert datieren, sind bemerkenswert. Im Zenit der Kuppel thront Christus der Weltherrscher (leider nur als Vorzeichnung erhalten). Er ist von einem Regenbogen umgeben, den wiederum Engel trugen (leider sind davon nur die Flügelspitzen  erhalten).  Darunter stehen Märtyrer in antik anmutenden Gewändern vor phantasievollen Scheinarchitekturen, die eindeutig noch den späthellenistischen Geist und Raumempfinden verkörpern. Gesprengte Giebel, ein räumliches Vor-und Zurück, aber die Landschaft, die man dahinter vermuten würde, ist bereits raumzeitlosem Goldhintergrund gewichen.

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In der Rotonda Thessaloniki: älteste christliche Kirche der Welt.

In den Mosaiken der Rotonda kann man so die Anfangsgründe der  byzantinischer  Kunst schlechthin entdecken. Von hier bis zu den spekulatiusartig ausgewalzten Bildnisersatzvorlagen zum Ausmalen für unbegabte Mönche im 19. Jahrhundert, deren „Malen nach Zahlen mit Eierfarbe“ wenigstens von halbbegabten Goldschmieden günstigstenfalls pietätvoll bis heute überschmiedet wird, ist es noch ein weiter Weg. Den Bildersturm überlebten die Mosaiken unter einer dicken Putzschicht, unter der sie auch überdauerten, als die Kirche um 1590 in eine Moschee umgewandelt wurde. Aus dieser Zeit stammt noch das erhaltene Minarett und die Vorhalle im osmanischen Stil.

Thessaloniki Rotonda

Rotonda mit Minarett

Die Vorliebe der orthodoxen Kirche für die Form des Zentralbaus, im Gegensatz zum Westen, wo eindeutig langgestreckte Kirchen basilikalen Schemas vorherrschen, ist viel diskutiert worden, m. E. nicht abschließend geklärt. Denn auch in Griechenland wurden Kirchen basilikalen Schemas gebaut, hohes Mittelschiff, Seitenschiffe, Trennung durch Säulen oder Pfeiler. Dieser Typ des Zweckbaus folgt der römischen Markthalle – das ist jetzt unsere  Überleitung mit der Brechstange.
Thessaloniki hat so eine typische Markthalle mit basilikalem Schema, nicht römisch, sondern aus der Zeit um 1912, aber dafür hat sie ihre ursprüngliche Funktion behalten: nicht als Kirche, sondern als Konsumtempel. Leider ist sie – im Vergleich zu unseren vorigen Besuchen, die mehr als zehn Jahre zurück liegen, mittlerweile etwas verwahrlost, viele Läden sind verwaist, aber die wenigen verbliebenen atmen dennoch den alten Flair von damals, verbreiten den Duft von Fisch, Krise, frisch geröstetem Kaffee, Gewürzen, Süßigkeiten und Obst.

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Die Markthalle von Thessaloniki: Schon von Außen erkennt man das basilikale Schema, das auch vielen anderen Zweckbauten wie Fabrikhallen oder Kirchen zu eigen ist.

 

 

 

 

 

 

 

Abend in Thessaloniki

31. August, Thessaloniki

Thessaloniki ist Ausgangspunkt einer einwöchigen Reise durch den Nordosten Griechenlands. Deshalb wird es in diesem Reisebericht so kurz angeschnitten, wie es eben in der kurzen Zeit möglich ist – eine längere Würdigung der schicksalhaften Geschichte dieser Stadt bleibt daher aus . Das muss einem Bericht einer der nächsten Jahre vorbehalten bleiben. Die Geschichte der Stadt von Antike über die byzantinische Hauptstadt zu durcheilen, die  Zeit jüdischer Hochkultur in der multinationalen Handelsmetropole am nördlichen Abschluss der Ägäis, und dabei über das Schicksal der Stadt zur NS-Zeit und die  Deportation und Ermordung von über 56.000 Juden zu stolpern, das ist in der Kürze der Zeit unmöglich.

Deshalb hier nur ein kurzer Streifzug: ein Gang durch die markante Uferpromenade mit Blick auf den weißen Turm. Zwischen den 10-stöckigen Hochhäusern aus den 1960er bis 1970er Jahre hat sich immer noch hin und wieder, eingezwängt zwischen den hochgewachsenen jungen Brüdern, die ein oder andere kunsthistorische Rarität aus der großen Zeit der Stadt vor dem zweiten Weltkrieg erhalten: französischer Jugendstil, Klassizismus, Bauhaus.

Die Thessolonicher flanieren hier gelassen in der Abendsonne, es riecht nach Gebäck aus den unzähligen „Sacharoplastia“ (Konditoreien), hin und wieder hört man zwischen Fetzen von Diskomusik aus den Straßencafes und die melancholischen Klänge des „Omorfi Thessaloniki“, einem der Klassiker des traditionellen griechischen Rebetiko: „schönes Thessaloniki“ (Text im Anhang), während an der Kaimauer die Brandung hochspritzt.

Das Lied kennt heute fast jeder in Griechenland, es ist einer der großen Klassiker. Geschrieben hat es der berühmte Komponist Wassilis Tsitsanis, der im Übrigen als einer der wichtigsten Sänger und Vertreter des aus Kleinasien stammenden „Rebetiko“ ist. Unter den vielen Liedern, die Thessaloniki besingen, ist es eines der bekanntesten, und neben der Sehnsucht einer verlorenen Heimat lässt es auch die ewige Konkurrenz zweier ungleicher griechischer Großstädte anklingen: Athen und Thessaloniki.

Man hat Thessaloniki nicht erlebt, wenn man nicht eines abends in den „Ladadika“ einkehrt, dem Viertel um den Hafen herum, wo sich einige Tavernen auf die gehobene, aber gleichzeitig traditionelle Kultur der Mesedes (Vorspeisen) spezialisiert haben. Eine Empfehlung, neben vielen anderen, das „Zythos“.

Neben dem obligatorischen Tsipuro (mit und ohne Anis, in Karaffen) und Weinen hat man hier mittlerweile eine überraschende Auswahl einheimischer Biersorten parat. Unter den Mesedes werden neben den üblichen Melintsanosalta, Tsatsiki pp. auch Seltenheiten angeboten. Empfehlung: überbackener Käse mit einer pikanten, süßsauren kretischen Tomatensoße.

Im Hotel rauscht die Klimaanlage, morgen früh wollen wir noch einmal quer durch Thessaloniki ziehen, und uns dann auf die Piste machen: Ziel: Komotini in Thrakien.

(Anhang: Omorfi Thessaloniki, Wassilis Tsitsanis, amelodische Überstzg. H.W.)

Refrain: Oh, schönes Thessaloniki, oh, deine zauberhaften Abende vermisse ich !

Du bist der Stolz meines Herzens,
schönes, süßes Thessaloniki
Und wenn ich auch in der Verführerin Athen lebe
besinge singe ich dich jeden Abend

(Refr.)

In deinen engen Gassen
habe ich die schönsten Momente erlebt
Tausende Nächte habe ich Ständchen gesungen
für all die Herzen der Boheme.

(Refrain)

du hältst mich immer in deinen Armen
mit Schmerzen ich denke ich immer an Dich
Aber auch wenn ich jetzt weit weg von Dir bin
mit der Zeit werde ich bei dir sein.

Ρεφραίν:
Ώ! όμορφη Θεσσαλονίκη
ώ! τα μαγικά σου βράδια νοσταλγώ

Είσαι το καμάρι της καρδιάς μου
Θεσσαλονίκη όμορφη γλυκιά
κι αν ζω στην ξελογιάστρα την Αθήνα
για σένα τραγουδώ κάθε βραδιά

Ρεφραίν

Μέσα στα στενά σου τα σοκάκια
έζησα τις πιο γλυκές στιγμές
καντάδες χίλιες νύχτες έχω κάνει
για όλες τις μποέμικες καρδιές

Ρεφραίν

Πάντα με κρατάς στην αγκαλιά σου
πάντα σε θυμάμαι και πονώ
κι αν είμαι τώρα λίγο μακριά σου
με τον καιρό κοντά σου θα βρεθώ

Ρεφραίν

(Wassilis Tsitsanis)