Als Jäger und Sammler im wilden Mavrovouni: Ein kulinarischer Streifzug zwischen Maronen, Edelpilzen und Wildschweinragout

Dieser Pilz lässt Kenner in Verzückung geraten: Der Kaiserpilz, Amanita caesarea, gefunden im Mavrovouni /Thessalien
Der auf dieser Google-Karte mit „Dasoktima Polydendrio „(Forstbezirk Polydendri)“ bezeichnete grüne Berg ist das Kerngebiet von Mavrovouni in Thessalien.

Mavrovouni heißt die Landschaft in Thessalien zwischen dem Ossa-Massiv im Norden, dem Pilion im Süden, zwischen der Küste im Osten und der Thessalischen Ebene im Westen. Mavrovoni ist eigentlich ein Berg, ein ansehnlich hoher sogar, ein Bergkamm mit Höhenlagen um die 1000 Meter. Mavrovouni bedeutet auf griechisch „schwarzer Berg“, was eigentlich nur zutrifft, wenn seine dicht bewaldeten Hänge morgens von den beschaulichen Ortschaften Potamia, Aghia oder Aetolofos im Gegenlicht stehen. Denn sonst müsste man ihn eigentlich „Grünberg“ nennen. Das Gebirge ist kaum besiedelt, abgesehen von den Dörfen Skiti und Sklithro sind die Orte, die allesamt von der Landwirtschaft leben, um den Fuß des Berges herum verteilt. Das erscheint merkwürdig, erklärt sich wohl aber damit, dass seine steilen, bewaldeten Hänge früher schwierig zu bezwingen waren und das Siedeln an den Füßen, von wo man auf der einen Seite in der fruchtbaren Ebene Landwirtschaft betreiben kann, und einst auf der anderen Meerseite zum Fischfang auszog. Heute liegen an der Ägäisküste des Berges mit seinen Badebuchten und einem langen Strand die Wochenend- und Ferienorte der Städter.

(Mehr über Mavrovouni gibt es in diesem Blog beispielsweise hier oder hier)

Der Berg jedoch versorgt bis heute die Bewohner der Ortschaften nicht nur mit Unmengen von Wasser, das sich bei den zahlreichen Regenfällen durch die Täler und Schluchten in die Ebene ergießt: er wird – und das in jüngster Zeit sogar in zunehmendem Maße – land- und forstwirtschaftlich genutzt. Das wollen wir uns ansehen. In die Höhenlagen des Mavrovouni führt allerdings ausgebaute Straße – nur mit den in der Landwirtschaft üblichen „Agrotika“ (einer Art Geländewagen, meistens gealterte Pickups von Toyota und Mitsubishi) oder Traktoren lassen sich die steilen, unbefestigten „Chomatodromi“ befahren. Zu Fuß im Sommer sind die staubigen und heißen Forstwege mühsam zu begehen, die Strecken sind lang, Orte zur Rast für Bergwanderer gibt es hier oben nicht. Auch GPS ist nicht immer eine Hilfe – der Handyempfang versagt oft, auch hier oben immer mehr Sendeanlagen errichtet werden. In den Mavrouvouni startet man am besten von dem Dorf Potamia oder Skiti aus. Jetzt, Ende September, ist hier unten bis in die Höhe von Skiti (etwa auf 350 Höhenmetern gelegen),die Apfelernte, wie überall in Thessalien, in vollem Gange.

Von Skiti oder auch dem fast in der Ebene gelegene Potamia aus führen die mit rötlicher Erde bedeckten Staubpisten langsam, dann immer steiler werdend, in die Berge hinauf. Nach den letzten Apfelbäumen wechselt die Vegetation zunächst in eine Art Macchia, mit Harthölzern bewachsen, der westliche Erdbeerbaum, hier „Kumaria“ genannt“, ist das Leitgehölz. Die Beeren beginnen jetzt zu reifen, sie schmecken süßlich, säuerlich und vor allem etwas fad. Genutzt werden sie kaum (vgl. Hallespektrum, Pflanze der Woche). Kaum vorstellbar, dass es oberhalb dieser trockenen Gehölzzone Vegetation gibt, die sogar landwirtschaftlich genutzt wird. Und doch ist es so.

Hebt man die Augen in die sich weiter oberhalb auftürmenden, dunkel grünen Berge, so erkennt man schon von weitem, dass dort ein Wald aus recht großen Bäumen bis in die Gipfelllagen der Berggipfel aufsteigt. Ermöglicht wird dieses Baumwachstum durch die Nebelwände und Regenwolken, die sich weiter oben an den Hängen stauen und diese oft sogar in ein feuchtes Dunkel tauchen – manchmal, wie jetzt im Herbst, ganz plötzlich und unvermittelt. Bald begleiten Eichen und Buchen, dann immer mehr und mehr Kastanien, und zwar nicht etwa die uns bekannten Roßkastanien, sondern Esskastanien (Maronen, Castanea sativa) den Weg. Teils handelt es sich noch um ihre Wildform, denn der Baum ist hier heimisch.

In den meisten Fällen aber verraten die Tennisballgroßen, grüngelb leuchtenden, stachelbewehrten Fruchtstände, dass es sich Kulturformen handelt. Es fällt auf, dass viele Plantagen neu angelegt sind, besetzt mit noch recht kleinwüchsigen Bäumen, die aber, das verraten ältere Exemplare, locker Höhen bis zu 20 Meter erreichen können. Schwarze Wasserschläuche durchziehen die steil in die Hanglagen aufsteigenden Plantagen mit einem bizarren Girlandenwerk. Je weiter man aufsteigt, mittlerweile erreichen wir Höhen von 800 bis 1000 Meter, wird der Nebel dichter, die Bäume kräftiger. Motorengebrumm zeugt von unzähligen Dieselmaschinen, die tagein- tagaus das Wasser zu den Bäumen pumpen. An manchen Stellen künden verkohlte Holzreste und breite, in ihren Höhlungen ausgekohlte Baumstümpfe, von Jahren zurücklegenden Brandereignissen – die aber anders, als sonst in Griechenland, kaum katastrophale Ausdehnungen erreicht haben. Ein Glück. Das mag an der prinzipiell geringeren Entflammbarkeit der regelmäßig künstlich wie natürlich befeuchteten Baumwelt liegen. Nadelbäume sieht man hier nicht.

Aus den verkohlten Stümpfen dieser Bäume treibt frisches Grün – es sind jedoch nicht Stockausschläge. Bauern haben die verkohlten Ruinen angebohrt, Edelreiser der neuen, besonders ertragreichen Edelkastaniensorten eingesteckt, die ihren Saft nun aus den lädierten, aber noch vitalen Relikten ihrer Großväter ziehen.

Dass nun, wo die Apfelernte sich dem Ende zuneigt, der nächste Ernteeinsatz in größerer Höhe ansteht, davon zeugen die langsam aufplatzenden grünen Stachelhüllen, die die braunglänzenden Maronenfrüchte langsam freigeben. Je höher wir geraten, ums so reifer werden die Bäume – die Ernte wird hier von oben herab, absteigend, erfolgen. Auf etwa 1000 Höhenmetern finden wir herabgefallene Kastanienauf dem Weg, viele aber sind nicht auf die Straße gefallen, sondern sind die Hänge hinabgekollert, wo sie sich in Mulden sammeln. Wie werden die eigentlich professionell geerntet? Gibt es da Maschinen? Wer soll da umherklettern, und um die Ware in die bereits bereitstehenden blauen Plastekisten einsammeln? Sicher ist: anders als in den Äpfelplantagen, wo zwischen den Baumreihen kleine Traktoren mit Anhängern durch fahren, besetzt mit meist albanischen oder osteuropäischen Zeitarbeitern, kommt hier keine Technik durch. Die Bäume zu hoch, die Hänge zu steil, und die Früchte fallen einfach aus den Stachelhülsen von den Bäumen, wenn sie reif sind und häufigen Windböen sie schütteln.

Eigentlich war unsere Idee, hier oben Pilze zu sammeln. Ein hoffnungsloses Unterfangen, denken wir, aber immerhin sind unsere Taschen voll mit Maronen, die wir vor dem Überfahren gerettet haben. Was auch nicht schlecht ist. Denn sie sind frisch, nicht wie diese innen verschimmelte, bestenfalls vertrocknete Ware, die man gelegentlich in Halle im Supermarkt erwerben kann.

Statt Maronen: der Kaiserling, der begehrteste Speisepilz der antiken Welt: Amanita caesarea.

Für Pilze war es zu trocken, jedenfalls fanden wir bislang keinen, bis zwischen vertrockneten strohigen Fruchthüllen der Bäume ein einzelner orangefarbenener Fleck erscheint. Ein Pilz. Erst einer, dann mehrere. Immer wieder in kleinen Gruppen lugen sie hervor. Vorsichtig aus dem mulmigen Erdreich gehoben, zeigen sie eine deutliche, breite Konolle, aus der ein Stiel emporsteigt. Der Schaft trägt eine Manschette, wie ein Knollenblätterpilz. Keine Frage: es handelt sich um Exemplare der Gattung Wulstling. Zu ihnen gehören die giftigsten Pilze, die man kennt – aber auch einige Speisepilze, beispielsweise der Perlpilz, den man jetzt auch gelegentlich in den herbstlichen Wäldern in Deutschland findet. Der Hut ist orangegelb, trägt aber keine weißen Flecken (Hüllreste) wie der uns natürlich bekannte Fliegenpilz. Sehr auffallend: Die Blätter (Lamellen) der Hutunterseite sind intensiv gelb-orange gefärbt. Das macht die Bestimmung sicher: Es ist eine Amanita caesarea, der Kaiserling. Schon der antike Enzyclopädist Plinius nennt in seiner „Naturalis historia“, der Wikipedia der Antike, Steinpilz, Trüffel und Kaiserling als die drei besten Speisepilze.  Aber auch der Gault Millau führt ihn als den „König der Pilze“ und empfiehlt sogar, den Fruchtkörper roh als Carpaccio zu genießen.

Das ist auch das wichtigste Unterscheidungsmerkmal zu anderen Arten der Gattung Amanita, und auch die wichtigste Lebensversicherung: kein anderer Wulstling hat gelbe Lamellen. Das sagt nicht nur die schlaue Wikipedia, sondern steht so auch in vielen Bestimmungsbüchern, auch diverse Apps erkennen den Pilz (obwohl – wie wir wissen – hier Vorsicht geboten ist. )
In fremden Klimazonen gibt es oft schlimme Doppelgänger – die leidvolle Erfahrung machen bekanntlich nicht nur nach Deutschland geflüchtete – anders herum passiert es auch. Aber auch die „einheimischen“ Webseiten beschreiben den „Käsarikos“ als guten Speisepilz und zeigen mögliche Verwechslungsgefahren fachkundig auf.

(Zum Thema Pilze sammeln in Griechenland gibt es in diesem Blog auch hier etwas zu lesen)

Der Wald: ein Ort, um zwanglos neue Bekanntschaften zu schließen

Motorengeräusch kommt näher, zwischen den Bäumen nahe der Lichtung, erscheint ein schwarzer Pickup, steuert langsam auf uns zu. Aus dem Wagen steigen zwei Männer, ein älter und ein jüngerer. Sie inspizieren zunächst das Wasserbecken, das hier als Pumpspeicher dient, dann mustern sie uns argwöhnisch und sprechen uns an. Was wir hier tun, sie hätten nichts dagegen, dass wir uns aufhalten – man möge es nur nicht, wenn Fremde die Kastanien zwischen den Bäumen aufsammeln. Das seien nämlich ihre. Wir versichern, dass wir mehr auf Pilze aus sind und zeigen den Herrschaften die Exemplare, die wir gefunden haben. Anerkennend stimmen sie uns zu – und bestätigen ebenfalls Art und Essbarkeit. Wir sollten uns aber vorsehen, meinten sie. Nicht nur vor giftigen Pilzen. Vielmehr sollen wir uns nicht dem Metallrohr nähern, das da zwischen den Bäumen steht und über einen Schlauch mit einer Propangasflache verbunden ist. Es ist eine Selbstschussanlage. Diese Maschinen, die übrigens kein Projektil verschießen, aber eine gehörige Druckwelle erzeugen, sind auch Ursache der merkwürdigen Knallgeräusche, die ringsum in den Wäldern zu hören sind. Sie sollen Vögel vertreiben.

So kommen ins Gespräch. Zunächst über Pilze, besonders der Jüngere scheint sich gut auszukennen. Im letzten Jahr – was ein gutes Pilzjahr war – haben die beiden einen Zentner davon aus ihrem Wald geholt, und sorgsam als Vorrat eingefroren. Die Plantage, bzw. der Wald, gehört ihnen. Wir fragen, aus welchem Ort sie kommen, von wo aus die Wälder hier oben bewirtschaftet werden. Aus Potamia, sagt der ältere. Da stammt mein Schwiegervater her, erkläre ich, und siehe: die Welt ist klein: die Familien waren Nachbarn. Wir bekommen gekochte Kastanien zum probieren, der Geschmack ist herrlich, leicht süßlich, weich wie Marzipan.
Nun erfahren wir auch, mit welchen Maschinen die Kastanienernte eingefahren wird: es gibt gar keine Maschinen. Alles wird von Hand aufgesammelt. Man habe schon vieles probiert, etwa mit Saugrüsseln: aber alles Fehlanzeige, hier zählt Handarbeit. Die erledigen wieder die albanischen, rumänischen und bulgarischen Saisonkräfte, derer allein unser Kastanienbauer über 50 jedes Jahr beschäftigt.

Schwein gehabt

Es wird frisch, geht auf sechs Uhr zu, zwischen den Bäumen weht ein kühler, geradezu kalter Wind und treibt Wolkenfetzen umher, es wird Zeit, die Talfahrt anzutreten.

Wir verabschieden uns – und sehen uns kurz darauf wieder. Vor einem großzügigen Haus in Potamia steht wieder der schwarze Pickup. Unsere Waldbekanntschaft winkt uns herbei. In der Einfahrt liegt ein frisch erlegtes Wildschwein, das den beiden auf dem Rückweg vor die Flinte gekommen ist. Während der Coronapause (wo sogar Jagen verboten war) haben die Tiere im Wald geradezu überhand genommen, erfahren wir. Vor uns liegt ein ordentliches Exemplar, seine Hauer lugen gefährlich aus dem blutenden Maul hervor, Vater und Sohn häuten das Tier. Wir bekommen eine Tüte mit einigen Fleischstücken geschenkt, versehen mit der Empfehlung, es gut zu marinieren, Knoblauch und ein Schuss Tsipouro (ein spezieller Tresterschnaps aus der Region) sollen es besonders zart und schmackhaft machen.

Hallali im Mavrovouni: die Sau ist tot

Dankend verabschieden wir und, und versichern, nächstes Jahr wiederzukommen, „einfach and der Tür klopfen, wir freuen uns“, laden sie uns ein.

Das machen wir, ganz bestimmt. Wenn die Pilze, die wir mittlerweile gegessen haben, es zulassen.

Maronen und Kaiserlinge: thessalisches Foodporn, unbearbeitet

Zu Besuch auf dem Berg bei Prof. Elias und zum See der gemordeten Bäume

Aghiokampos und Skiti, Mavrovouni, 30.August

Von Aghiokampos aus kann man den in der Höhe liegenden Ort Skiti bequem mit dem Auto über die „normale“ Straße erreichen, oder aber – unbequem und abenteuerlich – durch den Wald. Wer den Ausflug auf diese Weise machen möchte, nimmt ein etwas geländetaugliches Fahrzeug, wir haben das auch schon mit einem normalen, alten PKW gemacht, aber man muss dann etwas vorsichtig sein, unter anderem sind zwei kleine Furten durch einen Bach zu bewältigen – der dieses Jahr im Sommer jedoch kaum Wasser führt und gut passierbar ist. Wichtig ist auch: der Handyempfang funktioniert in den Wäldern Griechenlands, weitab von Siedlungen nicht, und Hilfe kommt nur selten in Form von Traktoren oder Holzlastern vorbei. Die Strecke lässt sich natürlich auch zu Fuß machen – es sind etwa 15 km nach Skiti durch den Wald, aber bei heißem Wetter (und Mücken) kein Spaß. Und danach wollen wir ja noch weiter…

Das erste Stück folgt man einem Bach, der unter schattigen Platanen auf der linken Seite des Weges plätschert. Rechts liegen Obstplantagen, Olivenhaine, ein seit bestimmt 30 Jahren nicht bewegter Traktor, ein paar Häuser, vor denen Hunde kläffen. Dann sind wir in der Wildnis, tauchen in einen dunkeln Wald ein, der überwiegend aus Platanen und Eichen besteht. Der unbefestigte, ausgefahrene Waldweg führt plötzlich steil hinunter auf die Furt des kleinen Baches zu, der uns bislang schon begleitet hat, und irgendwo den Bergen dunklen Bergen Mavrovounis entspringt. Die Berge von Mavrovouni hat für griechische Verhältnisse viel Wasser, deshalb sind sie dicht bewaldet. Die Wolken stauen sich hier, vom Meer kommend, und regnen einen guten Teil der feuchten Last schon ab, bevor sie die dahinter liegende thessalische Ebene erreichen. Diesen Spätsommer hat der Bach aber so wenig Wasser, dass man bequem hindurch kommt. Finster ist es hier unten, trotz strahlenden Sonnenscheins ist es an der Furt kühl, dunkel und feucht wie in einer Gruft. Nach der Passage lichtet sich der Wald, es geht hinauf, und der Wald macht einer trocknen Macchia aus Hartgehölzen wie Lorbeer, Ginster und Erdbeerbäumen („Kumara“, Arbutus unedo) platz. Staubig ist die Erdpiste, wer jetzt die Fenster nicht schließt, ist anschließend genau so orangerot gefärbt, wie die Erde Mavrovounis überhaupt.

Auf und ab geht es weiter, immer höher hinauf, die Ohren knacken, und manchmal gibt das trockene, harzig duftende Gebüsch den Blick auf das Meer frei, die Orte Aghiokampos und Velika liegen da unten wie eine weiße feine Kette am Meer. In der Ferne sieht man bei diesem klaren Wetter den Küstenstreifen von Chalkidiki gegenüber, und sogar den spitzen Kegel des Berg Athos.
Schon glaubt man, keine Zivilisation mehr erreichen zu können (man kann sich hier gut verirren, etliche  Abzweigungen enden irgendwo im Nichts oder in einem kläffenden Rudel verwilderter Hirtenhunde. Wichtig: in den Wäldern von Mavrovouni hilft auch kein GPS – die entsprechenden Kartendaten aus dem Internet empfängt ein normales Handy hier nicht). Nach einem weiteren Stück des Weges erscheinen aber wieder Telegrafendrähte, Plantagen und dann Zypressenbäume, die zum Friedhof von Skiti gehören. Skiti selbst ist ein hübscher kleiner Ort in den Bergen, man kann hier auf der Platia guten Tsipouro und Mesedes bekommen. Oberhalb des Friedhofs stehen Schilder, „ΠΡΩΣ ΓΥΠΕΔΟ“ (Zum Sportplatz). Das ist die richtige Richtung. Der „Sportplatz“ besteht aus zwei verrosteten Toren, der Rasen aus ein Meter hohem, vertrockneten Gestrüpp. Ab hier führt der Feldweg weiter, und es weist ein kleines, handgemaltes Holzschild „ΠΡΩΣ ΚΑΣΤΡΟ“, zur Burg. Da wollen wir hin. Man kommt an einem vermüllten Ziegenstall vorbei, um dann auf eine baumfreie Hochebene zu gelangen. Ziegen, Pferde und Maulesel haben hier alles kahlgefressen, und oben auf dem abgefressenen Schotterhügel stand einst eine prächtige byzantinische Festung, deren klägliche Reste heute nur noch aus ein paar Stummeln bestehen.

Der Ausblick ringsum entschädigt: Über Potamia und Aghia und  die von hier abfallenden Hügel in die thessalische Ebene, in die umgekehrte Richtung über die Ägäis und auf das Ossa-Gebirge. Mavrovouni hat viele Berggipfel, und etliche haben nicht einmal Namen. Zu einem kleineren, in der Nähe, weist ein Schild, wenn man wieder an die Abzweigung zum Kastro zurück fährt. „ΠΡΟΣ ΠΡΟΦ. ΗΛΙΑΣ“ – zu Prof. Elias?

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Zu Prof. Elias links rum

Gemeint ist der Hl. Prophet Elias (gr. „Profitis Ilias“), dem auf vielen Berggipfeln Kapellen oder sogar ganze Kloster errichtet wurden und immer noch werden. Elias ist der Schutzpatron der Berge schlechthin in Griechenland, und auf vielen Inseln heißen die jeweils höchsten Berge einfach nur „Profitis Ilias“. Dies bezieht sich auf die alttestamentliche Überlieferung, der Prophet habe sich auf den Berg Horeb geflüchtet, um sich vor der Verfolgung der Ehefrau des israelitischen König Ahab zu schützen.

Die in den 1980er Jahren am Fuße des Gipfels errichtete Kapelle ist nicht besonders sehenswert, es gibt eine neue, im traditionellen Stil angefertigte Ikonostase, sonst nichts weiteres. Der Platz  ist aber malerisch, ringsum stehen alte Eichen, ein überdachter Aussichtspavillon, und eine dazu passende Aussicht. Die eigentliche Spitze des Berges erreicht man aber erst nach weiteren ca 500 m. Hier oben steht ein merkwürdiges, quadratisches Häuschen, eine Art Wachturm, mit einer aufgesetzten Aussichtslaterne. Heute ist es verlassen und ruinös, ob es eine Art Feuerwehrturm war, oder etwas Militärisches – keine Ahnung. Eine verrostete Treppe führt zu der Aussichtslaterne hinauf, lohnt sich, 360-Grad-Panorama.

An einer anderen Abzweigung des Weges gibt es ein Schild, das zu einem See führen soll. „ΠΡΟΣ ΛΙΜΝΙ“. Die magische Aura dieses Sees hatte sich schon in meiner Vorstellung deshalb so gesteigert hatte, weil wir ihn in den vergangenen Jahren nie gefunden haben.  Jetzt klappt es. Eine weitere Strecke durch den Staub die dichte Macchia, sieht man eine Wasserfläche spiegeln – darin merkwürdige schwarze Gestalten stehend. Unten im Wald gelangt man dann direkt an den See. Es ist eine Art Stausee, den die Waldbauern hier angelegt haben, indem sie das Wasser der  im Winter spärlich fließenden, im Sommer aber ausgetrockneten Gebirgsbächlein sammeln. Dadurch ändert der nur etwa zwei Hektar große „See“ ständig den Wasserspiegel. Einst begleiteten den Bach uralte, teils ein halbes Jahrtausend alte Platanen. Das Wasser hat ihnen den Tod gebracht. Vor dem Aufstauen hat man sie nicht entfernt, sondern in Würde sterben lassen. Ihre Ruinen trotzen jedoch dem Wasser, wie klagende Geister recken sie ihre verwitterten Stämme und Aststummel aus dem Wasser in die Höhe, und mit etwas Phantasie kann man ihre klagenden und wütenden Gesten verstehen. Die Baumgeister bilden bizarre Figuren, etwas an die späten Skulpturen des Bildhauers Max Ernst erinnernd. Jetzt im Herbst ist das Gewässer fast ausgetrocknet, in den halbgetrockneten, aufgerissenen Schlamm haben unzählige Schaf-und Ziegenherden ihre Fußstapfen getrampelt, weil sie hier wohl im Sommer eine der wenigen Wassertränken im Sommer vorfinden, wenn die Bächlein längst ausgetrocknet sind.

Doch was sollte das? An dem kleinen Staudamm steht ein kleines Pumphäuschen, drinnen summt eine Elektropumpe. Schwarze Wasserschläuche führen von hier aus in die Umgebung, sich immer weiter in immer kleinere, dünnere Schläuchlein zerteilend. Dieser Teich dient nicht etwa der Bewässerung der zig-Kilometer weit entfernten Baumwollfelder in der Ebene: das Schlauchnetz versickert und verteilt sich hier oben in die Kastanienplantagen, die auf den ersten Blick gar nicht auffallen, da man die teils riesigen Bäume für einen Ende September, Anfang November, wenn auch in Griechenland der Sommer endgültig vorbei ist, werden die die in der grünen, weichstachligen Hülle verborgenen Esskastanien (Maronen, Castanea sativa) reif sein.

Heute werden sie im Handel als teure Spezialität vertrieben, denn die ernte – was man sich sicher vorstellen kann, ist mühsam. Einst sicherten die stärke- und fetthaltigen Früchte das Überleben vieler Menschen hier oben in den Bergen Griechenlands. Ein einziger, großer Baum könne eine ganze Familie durch den Winter bringen, hieß es.

Morgen werden kleine Koffer gepackt. Die Reise geht nach Thessaloniki, die Mutter abholen, dann wird der Nordosten Griechenlands erkundet. 

SDIM1727 Skiti Kastana

Kastanea sativa, Ende August, Skiti, 2016