Thessaloniki, den 1. September
Schon im 7.Jahrhundert nach Christus, wahrscheinlich schon gegen 620 n.Ch, wurde die gewaltige Kirche „Aghia Sophia“ (αγια σοφια) in Thessaloniki errichtet. Wie ihre Namensschwester, die berühmte Kirche in Konstantinopel (Istanbul) ist sie der heiligen Sophia geweiht. Während im Westen in den „dunklen Jahren“ der Völkerwanderung kaum imperiale Architektur entstand – dies auch schon mangels entsprechender staatlicher oder klerikaler Organisation – befinden sich die Metropolen des oströmischen Reiches in einer ersten großen Blütezeit. Hier lebt die Baukunst der Antike bruchlos weiter. Die Aghia Sophia ist ein bemerkenswertes Bauwerk. Byzantinische Kunsthistoriker kommen aus vielen Gründen nicht um diese Kirche herum. Mit der Kirche, deren abweisenden Westfassade wir uns nähern, und vor deren Hof Kinder in der Mittagssonne Bälle bolzen, wurde die „Kreuzkuppelkirche“ erfunden. Dieser Bautyp ist bis heute die am meisten gebaute Form des orthodoxen Gotteshauses. Der Grundtypus lässt sich etwa so erklären: In einen quadratischen Raum werden vier Pfeiler oder Stützen eingestellt, die ein inneres Quadrat markieren. Die Säulen des Inneren Quadrates werden mit vier Bögen überspannt, von ihnen ausgehend erstrecken sich kreuzweise vier Tonnengewölbe zu den Außenwänden. Das innere Quadrat erhält zwischen den Bögen vier sphärische Dreiecksgewölbe (Pendentivs), über den sich nun ergebenden zentralen Kreis errichtet man eine Kuppel. Nun bleiben noch die kleinen Quadrate in den Ecken übrig – die werden mit kleinen Kreuzgewölben überdeckt – das Ganze ergibt dann das Raumprinzip. Im Osten baut man nun eine Apsis an, im Westen einen Vorraum, den „Narthex“. In der Aghia Sophia in Thessaloniki ist dieser Narthex hufeisenförmig um dreiviertel des zentralen Gottesdiensraumes herum gezogen, das ist die einzige Besonderheit. Was dabei entsteht: Ein Raum, der in sich ruht, keine Richtung hat, wenn man von der Apsis absieht, den Chroraum, der aber bald mit einer Schranke abgesperrt wird. Diese Bauweise hat eine besondere Wirkung: Die zentrale Kuppel scheint auf den zarten Pfeilern zu schweben, es bildet sich ein Raum im Raum,wie ein Baldachin, der von den Fenstern der Anräume „magisch“ beleuchtet wird. Das ergibt den Eindruck geradezu transzendenter Leichtigkeit, die Gesetze der Schwerkraft erscheinen aufgehoben. In den meisten späteren byzantinischen Kirchen wird dann im zentralen Kuppelgewölbe der „Pantokrator“, Christus als Herrscher der Welt, dargestelllt. In Thessaloniki folgte man einem sehr frühen Bildprogramm: Hier tragen Engel (erhalten sind die Flügel) den thronenden Christus empor: Es ist die Himmelfahrt. In einem Kranz darunter stehen, radial angeordnet, Maria und die Apostel, die dem Schauspiel beiwohnen. In den Zwickeln der Pendentivs sind Engel dargestellt – möglicherweise eine Anspielung auf alttestamentarische Beschreibungen des alten Tempel Salomons. Wir blicken hier auf die frühesten Mosaiken nach dem Bilderverbot, sie datieren wohl die Mitte des 9. Jahrhunderts.
Während sich in den Kirchen des Westens der Blick gen Osten richtet, in den Chor, orientiert sich der gebaute Raum der Ostkirche auf den über ihr schwebenden Pantokrator, den Weltherrscher, der in dem gebauten Kosmos eine Orientierung vorgibt: da kann der Pfarer noch so sehr vor dem abgeschrankten Altarraum gen Osten Zeremonien abhalten. Byzantinische Zentrallbauten sind ein Abbild des Kosmos, und der ist Oben, kennt nicht Ost und West, nicht Nord und Süd.
Für Kunsthistoriker, die sich der spätantiken und byzantinischen Kunst verschrieben haben, ist die Aghia Sophia in Thessaloniki ein „Leitfossil“. Auch im Detail: die Ausformung ihrer Kapitelle zeigt, wie frei man mittlerweile mit dem überlieferten antiken Formenkanon spielt: So gibt es „Windstoßkapitelle“, bei denen die Akanthusblätter des ehrwürdigen korinthischen Kapitells wie von einem Herbststurm zur Seite geweht und umgebogen sind.
Das Äußere der Kirche erscheint dagegen unscheinbar. Frühchristliche und byzantinische Architektur ist „introvertiert“, sie entwickelt sich von innen nach außen. So zeigt die Kirche nur das rohe Ziegelmauerwerk, einst war sie wenigstens verputzt, aber es bleibt ein unscheinbarer Klumpen Steine, der Gestaltungswille würde allenfalls einem Weltkriegsbunker zu Ehre gereichen. Prachtentfaltung geschah im Inneren.
Wen Architekturgeschichte nicht anspricht, dem sei in den heißen Tagen dennoch ein Besuch der Kirche zu empfehlen. Die angenehme Frische erkalteten Weihrauchduftes ist auch ein Argument.
Rings um die Kirche gibt es etliche Straßencafes, wo man frisch gepressten Orangensaft oder selbstgemachte Zitronenlimonade ebenso genießen kann wie kalten Kaffeesorten z.B. „Fredo“ in hunderten Varianten oder den etwa aus der Mode gekommenen Klassiker „Frappe“.
Nicht weit entfernt ist die Rotonda.
Rotonda, Aghios Georgios: Älteste Kirche der Welt.
Der gewaltige römische Rundbau mit seiner zentralen Kuppel wurde ursprünglich kurz nach 300 n. Ch. als Mausoleum für den Tetrarchen Galerius errichtet, oder aber als Tempel des Zeus, oder der kabirischen Götter (zu letzteren später mehr, auf Samothraki). So genau weiß man das nicht. Sicher ist: Schon im Jahre 326 wurde das Gebäude in eine christliche Kirche umgewandelt – es ist damit die älteste, noch funktionierende Kirche der Welt. Auch die Mosaiken, die wahrscheinlich in das frühe 5.Jahrhundert datieren, sind bemerkenswert. Im Zenit der Kuppel thront Christus der Weltherrscher (leider nur als Vorzeichnung erhalten). Er ist von einem Regenbogen umgeben, den wiederum Engel trugen (leider sind davon nur die Flügelspitzen erhalten). Darunter stehen Märtyrer in antik anmutenden Gewändern vor phantasievollen Scheinarchitekturen, die eindeutig noch den späthellenistischen Geist und Raumempfinden verkörpern. Gesprengte Giebel, ein räumliches Vor-und Zurück, aber die Landschaft, die man dahinter vermuten würde, ist bereits raumzeitlosem Goldhintergrund gewichen.
In den Mosaiken der Rotonda kann man so die Anfangsgründe der byzantinischer Kunst schlechthin entdecken. Von hier bis zu den spekulatiusartig ausgewalzten Bildnisersatzvorlagen zum Ausmalen für unbegabte Mönche im 19. Jahrhundert, deren „Malen nach Zahlen mit Eierfarbe“ wenigstens von halbbegabten Goldschmieden günstigstenfalls pietätvoll bis heute überschmiedet wird, ist es noch ein weiter Weg. Den Bildersturm überlebten die Mosaiken unter einer dicken Putzschicht, unter der sie auch überdauerten, als die Kirche um 1590 in eine Moschee umgewandelt wurde. Aus dieser Zeit stammt noch das erhaltene Minarett und die Vorhalle im osmanischen Stil.
Die Vorliebe der orthodoxen Kirche für die Form des Zentralbaus, im Gegensatz zum Westen, wo eindeutig langgestreckte Kirchen basilikalen Schemas vorherrschen, ist viel diskutiert worden, m. E. nicht abschließend geklärt. Denn auch in Griechenland wurden Kirchen basilikalen Schemas gebaut, hohes Mittelschiff, Seitenschiffe, Trennung durch Säulen oder Pfeiler. Dieser Typ des Zweckbaus folgt der römischen Markthalle – das ist jetzt unsere Überleitung mit der Brechstange.
Thessaloniki hat so eine typische Markthalle mit basilikalem Schema, nicht römisch, sondern aus der Zeit um 1912, aber dafür hat sie ihre ursprüngliche Funktion behalten: nicht als Kirche, sondern als Konsumtempel. Leider ist sie – im Vergleich zu unseren vorigen Besuchen, die mehr als zehn Jahre zurück liegen, mittlerweile etwas verwahrlost, viele Läden sind verwaist, aber die wenigen verbliebenen atmen dennoch den alten Flair von damals, verbreiten den Duft von Fisch, Krise, frisch geröstetem Kaffee, Gewürzen, Süßigkeiten und Obst.