Im Delta des Evros an der türkischen Grenze

4. September 2016: Alexandroupoli, Evrosdelta, Feres, Stavroupoli:

Die Fähre bringt uns von Samothrake ohne Zwischenfälle zurück nach Alexandroupoli. Es ist die reine Neugier, die uns noch die letzten Kilometer bis an die türkische Grenze lockt. Und das ist  kein Fehler:

sdim2029-delta-evros

Das Evros-Delta. eine nNcht-Landschaft auf den ersten Blick.

Der Fluß Evros bildet die Grenze zur Türkei, und bevor er sich östlich von Alexandroupoli ins Meer ergießt, macht er sich noch mal so richtig breit. Schon kurz hinter Alexandroupolis sehen wir vor uns im Osten die Berge, die schon zur Türkei gehören, davor breitet sich eine Ebene aus, durchsetzt mit wenigen Wasserflecken. Hinter Alexandroupolis gibt es ein bescheidenes Tourismusinformationszentrum, der diensthabende Zivildienstleistende erläutert uns, dass wir zur falschen Zeit gekommen seien: viele Vögel seien schon ausgeflogen, andere noch nicht da. Er beschreibt uns den Weg, den  wir fahren sollen: „Stellen Sie sich dieses Naturschutzgebiet nicht so romantisch vor, wie sonst in Europa“, sagt er, man könne getrost mit dem Auto hindurch fahren. Und Müll läge auch überall herum, warnt er uns. Auf dem Weg in das Delta passieren wir noch das Hinweisschild „Thermes“, also wieder heiße Heilquellen, außerdem gibt es, an einem Ausläufer des Evros gelegen, ein mächtiges Gebäude mit einem Tonnengewölbe, angeblich aus byzantinischer Zeit, das aber als  „Chana“ (Χανα, Han, türkisch für Haus, Gästehaus,) bezeichnet ist, es soll noch aus vorosmanischer Zeit, also dem 14. Jhdt, stammen. Die Architektur ist merkwürdig, „Han“ waren meistens nicht mit derart massiven Gewölben erbaut.

sdim2019-das-gaestehaus-angeblich-byzantinisch-an-der-agnatia

Das „Chana“,“ Han“, Gästehaus?

Die Mauertechnik könnte zur behaupteten Zeitstellung passen, aber es sieht mehr nach den Relikten eine öffentlichen Therme aus. In der Umgebung gibt es mehrere Badehäuser aus den 1970er und 1980er Jahren, einige Senioren sitzen dort auf den schlichten Terrassen und scheinen sich in der spätnachmittäglichen Sonne von den Strapazen der heißen Anwendung zu erholen. „Frage nie einen Pomaken nach dem Weg, er wird Dir immer eine Antwort geben, auch wenn er keine Antwort kennt“: diesen Rat gaben uns griechische Freunde aus Thessalien mit auf den Weg. Der Rat scheint auch auf Zivis zu zutreffen. Dessen Beschreibung passte jedenfalls nicht zu unserem eingeschlagenen Weg, wir quälen uns lange durch Staubwüsten, vertrocknetes Schilf, quadratkilometerweise.

sdim2040-delta-evros-zerschossenes-schild

Man schießt gerne in Griechenland, und wenn der Jäger keine anderen Zielobjekte hat, dann ballert er gerne auf Verkehrsschilder oder Infotafeln.

sdim2060-delta-evros-queller

Queller, Salicornia ssp.

sdim2084-delta-evros sdim2081-delta-evros sdim2066-delta-evros Beim Versuch, umzukehren, finden wir dann doch die Sümpfe des Evros-Deltas. Hier ein brackiger Tümpel, dort Wasser, am Horizont Meer, darüber, irreal schwebend, unser Samothraki, das selbst von hier zum Greifen nah erscheint. Schildkröten kreuzen den Weg. Ihr Panzer ist mit feuchtem Algenglitsch überzogen, wieder eine Bildungslücke geschlossen: Die Schildkröten sehen so aus, wie diese Griechischen Landschildkröten, die wir als Kinder im Garten hatten, als der Artenschutz noch nicht so streng war. Wahrscheinlich sind diese offenbar schwimmfreudigen Tiere orientalische Bachschildkröten, wir haben keine Ahnung.  Komische Wasservögel geifern sich an, Graureiher in Massen, und zwei komplett schwarze Störche stelzen umher. Es ist vieles  merkwürdig hier, das Land geht langsam ins Meer über, natürlich entstandene Kanäle mäandrieren durch komische Pflanzen, Queller (Salicornia) zum Beipiel, dessen Geschmack salzig und etwas zitronig ist. So kann man sich Venedig vor seiner Gründung vorstellen. Es ist ein wunderbares Gemüse, aber aber einst verbrannte man die Pflanze, um aus ihrer Asche Soda für die Glasindustrie zu gewinnen. Etwas verwahrloste Hütten stehen herum, ebensolche Boote, kleine Ecclissiakia, Minizementkirchen auf Pfeilern zu Irgendwessen Andacht. Und jede Menge Abfall, der vom Fang einer der beliebtesten Leckereien in Griechεnland zeugt: Kavouria, Flußkrebse.

Noch ein Stück weiter, einen Steinwurf ( nicht böse gemeint, Herr Erdogan) zur Türkei liegt der kleine Ort Feres. Er hat eine byzantinische KKK (Kreuzkuppelkirche) zu bieten. Auf ihrem erhöhten Platz wehen griechische national- und byzantinische Kirchenflaggen mit Doppeladler, der Regel folgend, dass die Flaggendichte mit Näherung der Staatsgrenzen zunimmt, bis sie diejenige deutscher Kleingartenkolonien erreicht hat. Die Kirche Panagia Kosmosotira (Allerheiligste Mutttergottes, die Erretterin der Welt) wurde 1152 geweiht, sie gilt als nicht unbedeutendes Beipiel der komnenischen Architektur, deren Ausstrahlung mit ihrer vertikalen Betonung und Mehrschaligkeit der Innenarchitektur bis in die westeuropäische Spätromanik wirkte. Im 14. Jahrhundert wurde die Kirche zur Moschee umgenutzt: dadurch bleib ihr das Schicksal der Zerstörung erspart.

Es war nicht geplant, so weit in den Osten Griechenlands vorzurücken: nun haben wir gute zwei Stunden Fahrt vor uns, durch die Nacht, denn jetzt im Herbst wird es ab halb acht schlagartig dunkel. Wir müssen die reservierte Unterkunft in Stavroupolis bei Xanthi erreichen.
Dort empfängt uns Pandelis, „a Friend of one of my best Friends“: Er hat sein Elternhaus zu einem „Xenonas“ einer Art betreutem Hotel, umgebaut. Seine Familie, das erzählt er uns noch an jenem kühlen, sternenklaren Abend in dem über dem Nestostal gelegenen Ort, sei einst nach der kleinasiatischen Katastrophe (Zwangsumsiedlung nach dem Vertrag Lausanne 1923) hier gelandet. Das aus Bruchsteinen gefertigte Haus haben sie ausgebaut, und sowohl Eltern und Sohn haben, so wie sehr viele in dieser eins wirtschaftlich benachteiligten Region, den Weg nach Deutschland gesucht, der Arbeit wegen. Pantelis, unser Wirt, spricht Deutsch mit leicht schwäbischem Akzent, und Griechisch, alles geht durcheinander, wie es nun mal so geht, wenn sich Gemischtsprachler treffen, Pantelis, der die Stelle eines Försters hier im Bezirk hat, hat ein großes Sendebewusstsein. Er beschreibt die Wälder, welchen Waldbezirk wir unbedingt sehen sollen. Er macht uns ein Programm, uns schwirrt der Kopf vor Ausflugsvorschlägen, die er unterbreitet. Es würde wahrscheinlich mindestens ein halbes Jahr dauern, um die Ausflüge in seine Wälder, deren Ausdehnung weit über seinen eigenen Forstberitt hinausgehen, halbwegs abzuarbeiten. Pantelis ist ein wunderbarer Mensch, selten erlebt man solche, die von ihrer Sache derart begeistert sind. „Entscheidet Euch heute Nacht, wir sehen uns morgen früh unter der Tanne zum Frühstück“, sagt Pantelis, der Oberförster, als er uns spät in der Nacht verabschiedet.