Aghia (Thesslien), 6. September 2017
Aghia (Αγια, Aja) ist der Hauptort der Gemeinde Aja, die mehrere größere und kleinere Orte in der Ebene zwischen den Gebirgen Mavrovouni und Ossa auf der einen Seite, und der Großstadt Larissa auf der anderen Seite umfasst. Die Orte in der fruchtbaren Ebene ringsum leben fast ausschließlich von der Landwirtschaft. Biegt man hier von der Landstraße aus Larissa kommend, oder von den Bergen Mavrovounis herunter hier ab, so in eine zig Quadratkilometer weite, endlosen Paradiesgartem aus Apfelbäumen. Nichts als Apfelbäume. 80 % der Äpfel, die Griechenland exportiert, stammen von hier. Das glaubt man, wenn man die Massen an dicken roten,und gelben Äpfeln an den überladenen Bäumen sieht sofort, und fragt sich unweigerlich, wer um alles in der Welt so viele Äpfel essen kann.
Unendliche lange Reihen von Monokulturen, die Bäume werden an Spalieren gezogen, dazwischen laufen schwarze Plastikschläuche, die oft sogar Rechnergesteuert gezielt die Wasserversorgung steuern. Zig Millionen Apfelbäume, voll mit perfekten, normgerechten Früchten, man kann bedenkenlos hineinbeißen, den Wurmlöcher oder faule stellen gibt es nicht. Immer wieder sieht man kleine Traktoren, die zwischen den Reihen hindurch fahren, und Nebelfontänen empor stoßen, wie kleine Walfische pflügen sie sich durch das Plantagenmeer. Es sind Spritzmaschinen, mit denen Pflanzenschutzmittel aller Art zerstäubt werden. Das muss sein, denn die Großabnehmer haben klare Erwartungen an das genormte Produkt, meistens sind es dunkelrote Äpfel, es gibt auch noch spitze, gelbliche, die nach gar nichts schmecken. Geerntet werden die Äpfel noch von der Hand, was fast ausschließlich von albanischen Saisonarbeitern und Tagelöhnern erledigt wird.
Jetzt ist Erntezeit, und in Aghia wird das „Jorti ton Milon“, das Apfelfest, gefeiert. Auf den Mäuerchen der Plateia sitzen Scharen der albanischen Saisonarbeiter in der Abenddämmerung, in der Hand halten sie kleine Plastiktüten, in denn sie ihre Verpflegung aufbewahren, manche unterhalten sich, manche streiten, und manche starren auch nur mit leerem Blick auf die Straße, wo immer mal ein verspäteter Lastwagen mit Obstkisten oder eine der Spritzmaschinen vorbei rumpelt. Den Besuch in den zahllosen Tavernen, Tsipouradika und Psistaries (Grillrestaurants) können sie sich nicht leisten. Das Apfelfest ist eine mehrere Tage andauernde „Panijiri“, eine Art Kirmes. An den von LED-Scheinwerfern grell erleuchteten Ständen verkaufen Händler fast nichts anderes als „Chalvas Makedonikos“, ein leicht karamellisierter, fester, gummiartiges Gelee aus Stärkekleister und Zucker, garniert mit Nüssen und Mandeln. Es gibt aber auch ein kleines Karussel für Kinder, Glücksspielgeräte, gewissermaßen die abgespeckte Miniaturversion einer deutschen Provinzkirmes. Aber eine Panijiri ist hier des Volkes wahrer Himmel. Und, was ganz wichtig ist: Auf der Bühne gibt es täglich Lifebelustigung, meistens Musik, griechische Volksmusik der eher schlicht gestrickten Art mit viel Herzschmerz und Klarinettengejaul. Vor der Bühne sitzen nun die griechischen Bauern und Grundbesitzer, aber auch die Besitzer der großen Kühlhäuser, in denen die Ernte gelagert wird, um sie bei guten Tagespreisen auf den internationalen Markt werfen zu können. An den Rand gedrängt auch hier die albanischen Tagelöhner mit ihren Plastiktüten in ihren verschwitzten Arbeitsklamotten. Während wir uns an den Tischen einer Psistaria niedergelassen haben, ganz hervorragende Souvlakia und Kokoretzi zu uns nehmen, beginnt das Programm. Die Ansage kündigt an, dass sogar der stellvertretende Vorsitzende der Bezirksregierung das Fest mit seiner Anwesenheit beehrt, es soll Musik geben, und außerdem: ein Schulungsprogramm. Vorträge der Hochschule Thessaliens (eine Art Fachhochschule) zum Thema: „richtiger Umgang mit Pflanzenschutzmitteln“. Es folgt zunächst die etwas nichtssagende Ansprache eine zweitrangigen Lokalpolitikers, die zwischendurch von lautstarken Rufen aus der albanischen Ecke unterbrochen wird: „Die Tagelohnsätze sind zu niedrig“. Ja, er werde darauf eingehen, sagt der unterbrochene Redner, was er dann nicht tut. Nun gibt es ein paar Takte Musik, oder sind es Soundchecks? Singen können weder Sänger und noch Sängerin, und nun geht das Schulungsgprogramm los. So etwas haben wir noch nicht erlebt, Schulung der Landbevölkerung auf einem Dorffest, das klingt nach längst vergangenen Sowjetzeiten, und so warten wir gespannt ab, was passiert. Die ersten Griechen verlassen den Ort, die Albaner starren genau so interessiert wie wir auf den Mittfünfziger, der nun die Bühne betritt.
Er ist der für den Bereich Landwirtschaft zuständige Abteilungsleiter des Verwaltungsamtes im „Nomos“ von Larissa, man könnte das etwa mit der Bedeutung unseres Landesverwaltungsamtes vergleichen.
„Wir haben, in Zusammenarbeit mit der Hochschule Thessalien, diese Woche drei Schulungsveranstaltungen angeboten. Dann, noch einmal, heute um 18:00 Uhr, noch eine, weil fast niemand gekommen ist. Auch heute Abend war niemand von Euch erschienen“, begann er, sichtlich wutentbrannt, seine Rede an das versammelte Publikum. Den Grund der Publikumsbeschimpfung schob er gleich nach: „Es geht nicht nur um die Umwelt, die Ihr mit dem unverantwortlichen Einsatz von Pflanzenschutzmitteln verseucht. Es geht um Euer Geld, das Ihr sinnlos mit diesem Übermaß von Material verschwendet. Es geht um die Qualität eurer Produkte, denn selbstverständlich werden die immer wieder wegen zu hoher Belastung beanstandet. Und es geht um Eure Gesundheit“. Aber Ihr glaubt immer, alles schon alles zu wissen“, ruft er über die Reihen von Plastikstühlen, in denen die stolzen Landwirtsfamilien sich bequem gemacht haben, um dem eigentlich erwarteten Musik- und Belustigungsprogramm bei Bier, Wein und Schnaps zu folgen. „Nein, wir haben beschlossen, Euch nicht in Ruhe zu lassen, so kommt Ihr uns nicht davon !“ Es ist mittlerweile abends um zehn, der Abteilungsleiter redet sich in Rage. “ Ihr solltet wissen, dass die Abnehmer immer stärkere Kontrollen einführen werden, der Ruf einer ganzen Erzeugerregion geht kaputt, wenn Ihr so weiter macht. Stellt Euch vor: In den Niederlanden dürftet Ihr überhaupt nicht mehr Pflanzenschutzmittel anwenden, wenn Ihr keinen Sachkundenachweis vorlegen könnt. Dort wird die Teilnahme an zweijährigen Seminaren verlangt“.
Erstaunlicherweise verlässt nun kein Bäuerlein mehr den Platz, brav lauschen sie den folgenden Vorträgen über den sicheren Einsatz von Spritzmitteln, das Anlegen von Schutzausrüstung (ich habe noch keine Spritztraktorfahrer mit irgendwelcher solcher Ausrüstung gesehen, es ist allerdings auch eine Drecksarbeit, die man lieber den vorgenannten Tagelöhnern überlässt). Eine Wissenschaftlerin der landwirtschaftliche Fakultät führt nun aus, welche Unfälle (In erster Linie Vergiftung, Nervenschäden, Kollaps) mit entsprechender notfallmedizinischer Behandlung und längerem Krankenhausaufenthalten regelmäßig auftreten ( in erster Linie betroffen sind die Tagelöhner), man habe in der Provinz Aghia den Bestand um zehn Krankenwagen erhöhen müssen, um die Patienten nach solcherart Unfällen in die Kliniken bringen zu können. Langsam wird mir auch schlecht. Habe ich nicht eben noch, bei unseren Streifzügen, Äpfel von den Bäumen gepflückt, hineingebissen, um zu probieren? Au weiha. An Appel per day, keeps the doctor away? Von wegen. Hier wird gespritzt, bis der Arzt kommt. Ok, wir leben noch. Gefährdet sind wohl weniger die Verbraucher, als die Arbeiter, die teils aus Dummheit, teils wohl auch unter Zwang, sich selbst dem Dauernebel von Pestiziden, Fungizide, Herbiziden tagtäglich aussetzen. Vielleicht ist es auch testosterongesteuerter Heldenmut – Schutzausrüstungen werden möglicherweise als ein Zeichen von Schwäche gedeutet: unbehelmte Motorradfahrer im T-Shirt gehören ja auch immer noch zum gewohnten Straßenbild.