Selfies mit Atatürk

An einem nicht bekannten Tage im Jahre 1881 kommt in einem gut bürgerlichen Haus in Thessaloniki der  kleine Muṣṭafâ zur Welt. Die Vielvölkerstadt Thessaloniki (türkisch „Selanik“) ist damals eine der wichtigsten Handelsmetropolen im osmanischen Reich und gleichzeitig auch das Tor zum Westen.  Hier wird Griechisch,Türkisch, Bulgarisch, Albanisch und vor allem auch Ladinisch, die Sprache der spanischen Juden, gesprochen. Thessaloniki ist nicht nur mehrsprachig, sondern es leben auch viele Religionen friedlich nebeneinander: Juden, Christen und Muslime. Im Hause des kleinen Mustafa wurde, so viel weiß man, türkisch gesprochen. Mustafas Vater nannte sich Kızıl Hafız Ahmed Efendi, seine Mutter Zübeyde Hanım.  Der Vater war einmal Beamter für religiöse Stiftungen, dann Zollbeamter, zuletzt war er auch als Holzhändler tätig. Der kleine Mustafa hatte es in seiner Kindheit nicht leicht – und seine Eltern wohl auch nicht mit ihm. Die Koranschule, auf die ihn seiner Mutter schicken wollte, lehnte er ab, und überzeugte  seinen Vater, ihn auf eine weltliche Privatschule zu schicken. Nach vielen Brüchen und familiärem hin und her bestand er die Aufnahmeprüfung auf einer militärischen Mittelschule in Thessaloniki, die er als Viertbester seines Jahrgangs abschloss. Es schloss sich eine ziemlich wüstes Leben als Student an einer Militärakademie an – der übermäßige Genuss von Tsipuro oder Raki (einem Tresterschnaps) soll ihn ein Leben lang gezeichnet haben, die Geheimdienstakten vermerken auch den häufigen Besuch von Prostituierten. Von wem ist die Rede? von niemand Anderem als Mustafa Kemal „Atatürk“, dem legendären, und vielfach geradezu verklärten Begründer der modernen, säkularen Türkei, dessen Vermächtnis aktuell so bedroht ist, wie wohl seit langem nicht mehr. 

20160901_Thessaloniki Atatürks Essbesteck

Kam mit silbernem Löffel auf die Welt: Mustafa Kemal Atatürk

Das repräsentative Haus in der Apostolou-Pavlou-Straße 17 ist frisch restauriert und gehört heute dem türkischen Staat, es befindet sich auf dem von hohen Stahlgitterzäunen gesicherten Gelände des türkischen Konsulats. Es nennt sich Museum, ist aber eher eine Art Verehrungsstätte, die vorwiegend von türkischen Touristen besucht wird.

20160901_Thessaloniki Haus Kemal Atatürk

Mustafa Kemal Atatürks Geburtshaus in Thessaloniki: ein typisches, osmanisches Bürgerhaus aus der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts.

Mit vielen  vorwiegend jungen Türken und Türkinnen stehen wir Schlange vor dem Eingang, passieren Sicherheitsschleusen, lassen uns vom Wachpersonal anherrschen, unsere Namen nicht auf Griechisch in das Besucherbuch einzutragen („No Greek please, can not read that“). Eines fällt bei dem großen Andrang auf: niemand trägt Kopftuch, auch sonst gibt es nirgendwo religiösen Symbole, angesagt sind aber rote T-Shirts mit weißem Stern und Halbmond. Im Haus sind Devotionalien hinter dichten Panzerglasvitrinen ausgestellt: Kemals silbernes Essbesteck, viele Reliquien aus seinem Leben. Die Ausstellung ist schon eine sehr tendenziöse Darstellung der türkischen Geschichte.  Wachsfiguren von Kemals Eltern bereichern die Szenerie. Das  Allerheiligste ist aber der Raum im Obergeschoss, wo Kemals Wachsfigur auf einen dicken Ledersessel regiert. Hier herrscht gewaltiges Gedränge. Junge Mädels rücken ihre Frisur zurecht, ziehen nochmal den Liedstrich nach, dann zücken sie das Handy um Selfies mit ihrem wächsernen Nationalhelden zu machen: Atatürk als Facebookstar.

20160901_Selfis mit Atatürk (4)