Linksversiffte Volksmusik

Sonntag, 23. September 2018

Am Abend kommen wir an dem alten Kafenion vorbei, das tagsüber geschlossen war, und das der Reiseführer rühmte, weil es noch in seiner Ausstattung aus den 20er Jahren stamme. Von Ferne hatten wir die Klänge von Lifemusik gehört. Sie kamen aus eben dieser Taverne, die nun voller Gäste war, überwiegend junge Leute, typisches „linksalternatives Spektrum“. Es hätte eine Vollversammlung der „Hasis“ sein können, was sich da, dicht gedrängt, an Tischen, in der Taverne bei den typischen Mesedes an Tischen und vielen Getränken und Rauch versammelte. Wir lugten neugierig durch die offen stehenden Terrassentüren hinein, und sahen zwei Musiker, die die klassische kretische Lyra (eine Art Streichinstrument) und Baglamas (Zupfinstrument, ähnlich der Bouzouki) spielten. Dazu sangen sie kretische Volkslieder, teils sogar „akademische Klassiker“ mit Texten aus der Renaissancezeit, etwa von Vincenco Cornaro. Gäste machten uns hilfsbereit Platz, rückten zusammen, man überließ uns Platz an einem kleinen Tischchen. Die nächsten drei bis vier Stunden, bis weit nach Mitternacht, erlebten  wir eine Kulturveranstaltung, wie man sie auch auf Kreta nur selten erlebt. Immer wieder lösten sich von den Tischen Gäste, tanzten traditionelle kretische Reihentänze, und das teils textfeste Publikum an den Tischen sang begeistert mit. Gerade auf Kreta werden klassische Volksmusik und Tänze nicht als Ausdruck des Spießertums verstanden, sie sind bis heute -auch unter „linksversifften“ ein Ausdruck von Freiheit, Lebenswillen und sicher auch lokaler Identität.

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Manolis Manoussakis und Charis Panajotakis, Lyramusik im „Ploumi“, Archanes (Kreta)

Die Musiker übrigens sind in Kreta keine unbekannten: Manolis Manoussakis und Charis Panajotakis treten sogar des öfteren in den beliebten Musikkanälen des griechischen Fernsehen auf, sie sind prominente Vertreter der kretischen „Lyramusik“.

Hier ein Video, allerdings nur instrumental:

Und hier in einer Kultursendung im griechischen Staatsfernsehen:

Hier das Duo Manoussakis/ Panajotakis bei Studioaufnahmen:

 

Dieses Video vom Auftritt am vergangen Sonntag hab ich selbst bei Youtube reingestellt. Ist doch gut geworden, mein erstes öffentliches Meisterwerk der Filmkunst. Man beachte die subtile Kameraführung, es waren ja schon einige Raki im Spiel, also bei den Darstellern 🙂

Betrieben wird das Lokal, das sich „Ploumi“ nennt, übrigens von einer Genossenschaft. Neben dem Tavernenbetrieb veranstalten sie ziemlich regelmäßige Kulturveranstaltung, zu denen das zumeist studentische Publikum aus der nahe gelegenen Universitätsstadt Iraklio regelmäßig anreist.

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Ankündigung des Konzertes an der Scheibe der Taverne „Ploumi“

 

Beton: es kommt drauf an, was man draus macht. Märchenstunde in Knossos

Von Iraklio ist Knossos, etwa 15 Kilometer südlich in den langsam vom Meer aufsteigenden Hügeln gelegen, bequem zu erreichen. Die „Erfindung“ des Palastes von Knossos geht einerseits auf Griechische Mythologie (Labyrinth, Minotauros) zurück , andererseits auf die phantasievollen Interpretation seiner Ausgrabungen, die der Archäologen Sir Arthur Evans seit 1900 auf dem Hügel von Knossos vornahm. Er hatte bei seinen Grabungen umfangreiche Reste von Grundmauern frei gelegt, die Befunde enthhielten reichlich Amphoren mit Lebensmittelresten, Gerätschaften Schmuck, Skulpturen und Freskenfragmente, von letzteren lagen jedoch die wenigsten in Situ vor, waren also bereits in kleinen Putzstückchen von den Wänden gefallen, als sie gefunden wurden. Heute wissen wir, dass die Anlage, ob man sie nun als Palast oder große, wohlhabende Siedlung bezeichnen möchte, überwiegend zwei Bauphasen angehört. Eine ersten, so genannten „ersten Palastzeit“, zwischen 1900-1750 Ch, und einer zweiten Wiederaufbauphase („zweite Palastzeit“), nach einem verheerenden Erdbeben aus der Zeit um 1700 v. Ch.

Beton gewordene  Theorie: Rekonstruktionen auf dem Palasthügel von Knossos

Beton gewordene Theorie: Rekonstruktionen auf dem Palasthügel von Knossos

Evans war beseelt von der Idee einer bronzezeitlichen Hochkultur, die er vorgefunden haben will – was unbestritten richtig ist, doch er projezierte Paläste nach seinen neuzeitlichen Vorstellungen, die wohl eher  barocken Schlössern angelehnt waren, als dem tatsächlichen – aufgrund Feuer und Erdbeben mit damaligen Methoden schwer zu interpretierenden Befunden entsprachen. Hinzu kam, dass Evans viele tragende Teile der Architektur gar nicht mehr vorfand, da sie einst aus Holz bestanden hatten. Leider hat Evans sich nicht nur an zeichnerische Rekonstruktionen gewagt, sondern ab den 1920er Jahren beschlossen, seine bis zu fünfstöckigen Phantasiebauten auf den originalen Befunden zu errichten, teils unter Verwendung originaler Spolien, die er den Grabungsbefunden entnahm.

Knossos, so genanntes Treppenhaus

Knossos, so genanntes Treppenhaus. Die Spielwarenabteilung befindet sich in der 5. Etage.

Beton. Es kommt drauf an, was man draus macht.

Die vermuteten Holzteile, wie etwa Säulen und Gebälk,  ließ er, nach anfänglichen Versuchen mit skandinavischem Kiefernholz, in Beton nachbauen, den  man damals für ein unverwüstliches Baumaterial hielt.  Der Beton wurde anschließend plastisch und malerisch auf Holz getrimmt, die Säulen in Pompejanisch-Rottönen, Schwarz und weiß gefasst, was teils malerischen Überlieferungen der erhaltene Freskenfragmenten, teils sogar überlieferten, kleinen, minoischen Hausmodellen aus Ton entsprach. Zudem entsprachen Stil und Farbigkeit dem Geschmack der Zeit. Die  phantasievolle Rekonstruktion der Fresken, die heute im archäologischen Nationalmuseum zu sehen sind, teils als Kopie in den Palastrekonstruktionen in Knossos, scheinen geradezu vom späten Jugendstil und Art Deco inspiriert zu sein. Dabei sind immerhin die wenigen originalen Fragmente halbwegs nachvollziehbar in die freizügigen, Rekonstruktionen eingegliedert. Während letzteres Vorgehen  noch legitim erscheint, weil reversibel, sind die massiven Betonüberbauungen ein Problem für die antiken Restbefunde, unter dessen Gewicht  sie förmlich zerdrückt werden. Die Fachwelt ist sich heute weitgehend einig, dass vieles des originalen Materials unwiederbringlich verloren gegangen ist. Aber auch die Evansschen Betonmassen haben sich nicht als so unverwüstlich erwiesen, wie man einst dachte. Sie sind heute selbst Gegenstand von Restaurierungsartbeiten geworden.

Wie die „Palast“anlage nun tatsächlich ausgesehen haben könnte, ist bis heute Gegenstand wissenschaftlicher Diskussion. Wir wollen das an dieser Stelle nicht weiter ausführen, dies hier ist ein Reisebericht, der allenfalls neugierig machen soll, Fachliteratur gibt es genug. Vorstellungen einer Rekonstruktion ergeben sich aber beim Besuchen in den kretischen archäologischen Museen, wo man bronzezeitliche Hausmodelle aus Ton sehen kann (also Modelle, die die Minoer wohl in weiser Vorahnung der Nachwelt selbst hinterließen) , die offenbar mehr oder weniger idealisiere, kleine „Privatvillen“ zeigen.

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Minoisches tönernes Hausmodell aus dem archäologischen Museum Iraklio

Reiht man derer einige locker in Gestalt eines wohlgeordneten Dörfchens um einen zentralen Platz herum, und lässt dabei schmale Wege frei, die oft, um dem Gelände zu folgen, mit Treppchen versehen sind, so erhält man ein griechisches Dorf, meinetwegen eine kleine Stadt, oder eben, wenn man mag, auch einen ganzen Palast. Evans hat mit seinen Palastphantasien jedenfalls maßgeblich unser Geschichtsbild optisch geprägt. Es gibt kaum ein Schulbuch, das nicht die großen Loggien abbildet, mit ihren sich nach oben erweiternden roten Säulen mächtigen Wulstkapitellen und Gebälken. Malerisch öffnen sie sich in die weit offene Hügellandschaft mit ihren Olivenbäumen. Der Ausblick auf das Meer in der Ferne dürfte wohl den damaligen Verhältnissen nahe kommen, während aber beispielsweise die merkwürdigen Treppenhäuser eher an Werke von M.C. Escher erinnern. Egal. Ein Spaziergang über die Anlage lohnt sich, und mittlerweile darf man, nach Lösung des Eintritts, auch ohne Führer über die halbwegs gut gepflegte Anlage laufen. Die durchwegs zweisprachigen Erläuterungstafeln sind knapp gehalten, und neuerdings, modernen wissenschaftlichen Einsichten folgend, fast durchweg im Konjunktiv verfasst, und bezeichnen die in Beton gestampften Theorien des Artur Evans als das, was sie sind: unhaltbare Phantasie.

Wer jedoch eine „fachkundige“ Führung haben will, muss tief in die Tasche greifen, und erhält in der Regel von älteren griechischen Damen, eine noch von griechisch-nationalen Begeisterung geprägte eigene Interpretation. So zum Beispiel die Führerin, die uns in der mit blühenden Bougainvillien bedeckten Laube vor dem Kasseneingang aufschnappte. Sie nannte sich Stella (Name geändert), sprach uns nur mit „meine lieben Schätzchen“ an, und hatte in Wien Archäologie studiert (wahrscheinlich noch in der jüngeren Palastzeit). Zu drei Personen sollten wir für die Führung 60 Euro berappen, oder wenn sich sechs Personen fänden, zahle jeder aus der Gruppe nur 10 Euro. Wir wollten aber nicht, aber irgendwann einigten wir uns auf dreißig. Ein Erlebnis der Sonderklasse, wenn man für Esoterik offen ist. Der Palast berge ganz große Geheimnisse, wurde uns offenbart, und dass unter den Minoern perfekte Demokratie herrschte, außederm die totale geschlechtliche Gleichberechtigung. Im selben Atemzug erfuhren wir von dem mächtigen König Minos berichtet, der eine Stadt mit einer Million Einwohnern, die sich um den Palast erstreckt habe,  beherrschte (auf ganz Kreta leben heute 700.000 Menschen). Wir erfahren von einem umgedrehten Epsilon (dem heutigen griechischen „E“, (€ ), das in irgend einen Stein geritzt sei, und damals schon für Griechenland („Ellas“) gestanden habe. „Ein Epsilon in Linar A ?“, war meine erste und letzte kritische Frage, wir „Schätzchen“ erfuhren daraufhin, dass natürlich auch der berühmte Diskos von Phaistos viele wichtige und geheime Botschaften enthalte (der wahrscheinlich eine Fälschung ist, aber das bleibt unter uns hier).  Man kann (und sollte sich) dann höflich von einer solchen Dame trennen, aus Rücksicht auf ihr hohes Alter. Denn der Weg über das Gelände ist lang, und wenn die Sonne knallt, möchte man der Führerin, die ihr wohlverdientes Geld ohne weitere Belege bereits eingesteckt hat, auch ihren Ruhestand gönnen. Auch wenn der „wissenschaftliche Erkenntnisgewinn“ dürftig ist, beeindruckt der Betonpalast schon als Gesamtkunstwerk, etwa der Baderaum mit dem Tauchbecken (den Evans für den Thronsaal hielt) an der „Plateia“, die Zisternenanlagen, die zeigen, wie effektiv auch die  Minoer auf dem wasserarmen Hügel noch den letzten Tropfen Regenwasser sorgsam aufsammelten. Hinfahren lohnt sich, weiterfahren auch. Beispielsweise in Richtung der Ortschaft Archanes.

Der Aquaedukt von Spili

Auf halben Wege dorthin trifft man, etwa auf der Höhe der Ortschaft Spili, auf ein wirklich reales Bauwerk, im Original erhalten. Ein Aquaedukt, der beachtlich jungen Datums ist: 1840 n.Ch. errichteten Osmanen, römisch-byzantinischer, aber auch osmanischer Tradition folgend, eine gewaltigen Leitungsbrücke aus Kalksteinmauerwerk mit imposanten, weit gespannten Bögen. Die Wasserleitung führt von den Quellen bei Archanes und versorgte die Stadt Iraklion / Candia mit Wasser. Um Bauhöhe zu sparen, hat man den Aquädukt bereits als Druckleitung errichtet. Von der Anhöhe fällt das Wasser etwa 30 Meter in einer Leitung ins Tal, wo es einen Druck aufbaute, der mit den damaligen Bleirohren gerade noch zu halten war, um dann über das Brückenbauwerk geleitet zu werden, von wo es dann wieder die andere Talseite aufstieg. „Düker“ nennt man solche Bauwerke heute, die, dank druckresistenterer Materialien, ganz ohne Brückenbauten auskommen.

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Der osmanische Aquaedukt von Spili

In den Bögen über dem schwindelerregend tiefen Tal im Kiefernwald ließ sich gerade ein Hochzeitspaar von einem Profifotorafen in der Abendsonne fotografieren. Was macht man eigentlich mit solchen Bildern?

Ankunft in Archanes

Als Anlaufpunkt für Übernachtungen, oder  um Abende ausklingen zu lassen, empfiehlt sich die Ortschaft Archanes. Der ältere Stadtkern (Ano Archanes, oberes Archanes) ist eine mit ihren qualitätvollen Bauten des 19. und 18. Jahrhunderts gut erhaltenen kleine Stadt, die durch die Vielzahl von Läden, Tavernen, Schulen und Kultureinrichtungen ein sehr lebendiges, und gleichzeitig traditionelles, unverfälschtes Bild kretischen Lebens abgibt.

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Archanes by night

In der Nachsaison sind hier Appartements und Unterkünfte zu günstigen Preisen zu finden. Eine Vorabsuche im Internet ist nicht nötig. Wir fanden zufällig ein „Appartment“ in der „Villa Oresti“, einem Altstadthaus am oberen Ende der Altstadt, das uns bekannt vorkam: wir waren vor Jahren schon mal hier, stellten wir fest, als wir den blumenbestandenen Innenhof, der von einer Weinpergola überdeckt, betraten. Der Besitz ist mittlerweile an die nächste Generation übergegangen, das dreistöckige Appartment ist nun etwas modernisert, hat freies WLan und seinen geringen Preis von vor sieben Jahren behalten.