Mavrovouni heißt die Landschaft in Thessalien zwischen dem Ossa-Massiv im Norden, dem Pilion im Süden, zwischen der Küste im Osten und der Thessalischen Ebene im Westen. Mavrovoni ist eigentlich ein Berg, ein ansehnlich hoher sogar, ein Bergkamm mit Höhenlagen um die 1000 Meter. Mavrovouni bedeutet auf griechisch „schwarzer Berg“, was eigentlich nur zutrifft, wenn seine dicht bewaldeten Hänge morgens von den beschaulichen Ortschaften Potamia, Aghia oder Aetolofos im Gegenlicht stehen. Denn sonst müsste man ihn eigentlich „Grünberg“ nennen. Das Gebirge ist kaum besiedelt, abgesehen von den Dörfen Skiti und Sklithro sind die Orte, die allesamt von der Landwirtschaft leben, um den Fuß des Berges herum verteilt. Das erscheint merkwürdig, erklärt sich wohl aber damit, dass seine steilen, bewaldeten Hänge früher schwierig zu bezwingen waren und das Siedeln an den Füßen, von wo man auf der einen Seite in der fruchtbaren Ebene Landwirtschaft betreiben kann, und einst auf der anderen Meerseite zum Fischfang auszog. Heute liegen an der Ägäisküste des Berges mit seinen Badebuchten und einem langen Strand die Wochenend- und Ferienorte der Städter.
(Mehr über Mavrovouni gibt es in diesem Blog beispielsweise hier oder hier)
Der Berg jedoch versorgt bis heute die Bewohner der Ortschaften nicht nur mit Unmengen von Wasser, das sich bei den zahlreichen Regenfällen durch die Täler und Schluchten in die Ebene ergießt: er wird – und das in jüngster Zeit sogar in zunehmendem Maße – land- und forstwirtschaftlich genutzt. Das wollen wir uns ansehen. In die Höhenlagen des Mavrovouni führt allerdings ausgebaute Straße – nur mit den in der Landwirtschaft üblichen „Agrotika“ (einer Art Geländewagen, meistens gealterte Pickups von Toyota und Mitsubishi) oder Traktoren lassen sich die steilen, unbefestigten „Chomatodromi“ befahren. Zu Fuß im Sommer sind die staubigen und heißen Forstwege mühsam zu begehen, die Strecken sind lang, Orte zur Rast für Bergwanderer gibt es hier oben nicht. Auch GPS ist nicht immer eine Hilfe – der Handyempfang versagt oft, auch hier oben immer mehr Sendeanlagen errichtet werden. In den Mavrouvouni startet man am besten von dem Dorf Potamia oder Skiti aus. Jetzt, Ende September, ist hier unten bis in die Höhe von Skiti (etwa auf 350 Höhenmetern gelegen),die Apfelernte, wie überall in Thessalien, in vollem Gange.
Von Skiti oder auch dem fast in der Ebene gelegene Potamia aus führen die mit rötlicher Erde bedeckten Staubpisten langsam, dann immer steiler werdend, in die Berge hinauf. Nach den letzten Apfelbäumen wechselt die Vegetation zunächst in eine Art Macchia, mit Harthölzern bewachsen, der westliche Erdbeerbaum, hier „Kumaria“ genannt“, ist das Leitgehölz. Die Beeren beginnen jetzt zu reifen, sie schmecken süßlich, säuerlich und vor allem etwas fad. Genutzt werden sie kaum (vgl. Hallespektrum, Pflanze der Woche). Kaum vorstellbar, dass es oberhalb dieser trockenen Gehölzzone Vegetation gibt, die sogar landwirtschaftlich genutzt wird. Und doch ist es so.
Hebt man die Augen in die sich weiter oberhalb auftürmenden, dunkel grünen Berge, so erkennt man schon von weitem, dass dort ein Wald aus recht großen Bäumen bis in die Gipfelllagen der Berggipfel aufsteigt. Ermöglicht wird dieses Baumwachstum durch die Nebelwände und Regenwolken, die sich weiter oben an den Hängen stauen und diese oft sogar in ein feuchtes Dunkel tauchen – manchmal, wie jetzt im Herbst, ganz plötzlich und unvermittelt. Bald begleiten Eichen und Buchen, dann immer mehr und mehr Kastanien, und zwar nicht etwa die uns bekannten Roßkastanien, sondern Esskastanien (Maronen, Castanea sativa) den Weg. Teils handelt es sich noch um ihre Wildform, denn der Baum ist hier heimisch.
In den meisten Fällen aber verraten die Tennisballgroßen, grüngelb leuchtenden, stachelbewehrten Fruchtstände, dass es sich Kulturformen handelt. Es fällt auf, dass viele Plantagen neu angelegt sind, besetzt mit noch recht kleinwüchsigen Bäumen, die aber, das verraten ältere Exemplare, locker Höhen bis zu 20 Meter erreichen können. Schwarze Wasserschläuche durchziehen die steil in die Hanglagen aufsteigenden Plantagen mit einem bizarren Girlandenwerk. Je weiter man aufsteigt, mittlerweile erreichen wir Höhen von 800 bis 1000 Meter, wird der Nebel dichter, die Bäume kräftiger. Motorengebrumm zeugt von unzähligen Dieselmaschinen, die tagein- tagaus das Wasser zu den Bäumen pumpen. An manchen Stellen künden verkohlte Holzreste und breite, in ihren Höhlungen ausgekohlte Baumstümpfe, von Jahren zurücklegenden Brandereignissen – die aber anders, als sonst in Griechenland, kaum katastrophale Ausdehnungen erreicht haben. Ein Glück. Das mag an der prinzipiell geringeren Entflammbarkeit der regelmäßig künstlich wie natürlich befeuchteten Baumwelt liegen. Nadelbäume sieht man hier nicht.
Aus den verkohlten Stümpfen dieser Bäume treibt frisches Grün – es sind jedoch nicht Stockausschläge. Bauern haben die verkohlten Ruinen angebohrt, Edelreiser der neuen, besonders ertragreichen Edelkastaniensorten eingesteckt, die ihren Saft nun aus den lädierten, aber noch vitalen Relikten ihrer Großväter ziehen.
Dass nun, wo die Apfelernte sich dem Ende zuneigt, der nächste Ernteeinsatz in größerer Höhe ansteht, davon zeugen die langsam aufplatzenden grünen Stachelhüllen, die die braunglänzenden Maronenfrüchte langsam freigeben. Je höher wir geraten, ums so reifer werden die Bäume – die Ernte wird hier von oben herab, absteigend, erfolgen. Auf etwa 1000 Höhenmetern finden wir herabgefallene Kastanienauf dem Weg, viele aber sind nicht auf die Straße gefallen, sondern sind die Hänge hinabgekollert, wo sie sich in Mulden sammeln. Wie werden die eigentlich professionell geerntet? Gibt es da Maschinen? Wer soll da umherklettern, und um die Ware in die bereits bereitstehenden blauen Plastekisten einsammeln? Sicher ist: anders als in den Äpfelplantagen, wo zwischen den Baumreihen kleine Traktoren mit Anhängern durch fahren, besetzt mit meist albanischen oder osteuropäischen Zeitarbeitern, kommt hier keine Technik durch. Die Bäume zu hoch, die Hänge zu steil, und die Früchte fallen einfach aus den Stachelhülsen von den Bäumen, wenn sie reif sind und häufigen Windböen sie schütteln.
Eigentlich war unsere Idee, hier oben Pilze zu sammeln. Ein hoffnungsloses Unterfangen, denken wir, aber immerhin sind unsere Taschen voll mit Maronen, die wir vor dem Überfahren gerettet haben. Was auch nicht schlecht ist. Denn sie sind frisch, nicht wie diese innen verschimmelte, bestenfalls vertrocknete Ware, die man gelegentlich in Halle im Supermarkt erwerben kann.
Statt Maronen: der Kaiserling, der begehrteste Speisepilz der antiken Welt: Amanita caesarea.
Für Pilze war es zu trocken, jedenfalls fanden wir bislang keinen, bis zwischen vertrockneten strohigen Fruchthüllen der Bäume ein einzelner orangefarbenener Fleck erscheint. Ein Pilz. Erst einer, dann mehrere. Immer wieder in kleinen Gruppen lugen sie hervor. Vorsichtig aus dem mulmigen Erdreich gehoben, zeigen sie eine deutliche, breite Konolle, aus der ein Stiel emporsteigt. Der Schaft trägt eine Manschette, wie ein Knollenblätterpilz. Keine Frage: es handelt sich um Exemplare der Gattung Wulstling. Zu ihnen gehören die giftigsten Pilze, die man kennt – aber auch einige Speisepilze, beispielsweise der Perlpilz, den man jetzt auch gelegentlich in den herbstlichen Wäldern in Deutschland findet. Der Hut ist orangegelb, trägt aber keine weißen Flecken (Hüllreste) wie der uns natürlich bekannte Fliegenpilz. Sehr auffallend: Die Blätter (Lamellen) der Hutunterseite sind intensiv gelb-orange gefärbt. Das macht die Bestimmung sicher: Es ist eine Amanita caesarea, der Kaiserling. Schon der antike Enzyclopädist Plinius nennt in seiner „Naturalis historia“, der Wikipedia der Antike, Steinpilz, Trüffel und Kaiserling als die drei besten Speisepilze. Aber auch der Gault Millau führt ihn als den „König der Pilze“ und empfiehlt sogar, den Fruchtkörper roh als Carpaccio zu genießen.
Das ist auch das wichtigste Unterscheidungsmerkmal zu anderen Arten der Gattung Amanita, und auch die wichtigste Lebensversicherung: kein anderer Wulstling hat gelbe Lamellen. Das sagt nicht nur die schlaue Wikipedia, sondern steht so auch in vielen Bestimmungsbüchern, auch diverse Apps erkennen den Pilz (obwohl – wie wir wissen – hier Vorsicht geboten ist. )
In fremden Klimazonen gibt es oft schlimme Doppelgänger – die leidvolle Erfahrung machen bekanntlich nicht nur nach Deutschland geflüchtete – anders herum passiert es auch. Aber auch die „einheimischen“ Webseiten beschreiben den „Käsarikos“ als guten Speisepilz und zeigen mögliche Verwechslungsgefahren fachkundig auf.
(Zum Thema Pilze sammeln in Griechenland gibt es in diesem Blog auch hier etwas zu lesen)
Der Wald: ein Ort, um zwanglos neue Bekanntschaften zu schließen
Motorengeräusch kommt näher, zwischen den Bäumen nahe der Lichtung, erscheint ein schwarzer Pickup, steuert langsam auf uns zu. Aus dem Wagen steigen zwei Männer, ein älter und ein jüngerer. Sie inspizieren zunächst das Wasserbecken, das hier als Pumpspeicher dient, dann mustern sie uns argwöhnisch und sprechen uns an. Was wir hier tun, sie hätten nichts dagegen, dass wir uns aufhalten – man möge es nur nicht, wenn Fremde die Kastanien zwischen den Bäumen aufsammeln. Das seien nämlich ihre. Wir versichern, dass wir mehr auf Pilze aus sind und zeigen den Herrschaften die Exemplare, die wir gefunden haben. Anerkennend stimmen sie uns zu – und bestätigen ebenfalls Art und Essbarkeit. Wir sollten uns aber vorsehen, meinten sie. Nicht nur vor giftigen Pilzen. Vielmehr sollen wir uns nicht dem Metallrohr nähern, das da zwischen den Bäumen steht und über einen Schlauch mit einer Propangasflache verbunden ist. Es ist eine Selbstschussanlage. Diese Maschinen, die übrigens kein Projektil verschießen, aber eine gehörige Druckwelle erzeugen, sind auch Ursache der merkwürdigen Knallgeräusche, die ringsum in den Wäldern zu hören sind. Sie sollen Vögel vertreiben.
So kommen ins Gespräch. Zunächst über Pilze, besonders der Jüngere scheint sich gut auszukennen. Im letzten Jahr – was ein gutes Pilzjahr war – haben die beiden einen Zentner davon aus ihrem Wald geholt, und sorgsam als Vorrat eingefroren. Die Plantage, bzw. der Wald, gehört ihnen. Wir fragen, aus welchem Ort sie kommen, von wo aus die Wälder hier oben bewirtschaftet werden. Aus Potamia, sagt der ältere. Da stammt mein Schwiegervater her, erkläre ich, und siehe: die Welt ist klein: die Familien waren Nachbarn. Wir bekommen gekochte Kastanien zum probieren, der Geschmack ist herrlich, leicht süßlich, weich wie Marzipan.
Nun erfahren wir auch, mit welchen Maschinen die Kastanienernte eingefahren wird: es gibt gar keine Maschinen. Alles wird von Hand aufgesammelt. Man habe schon vieles probiert, etwa mit Saugrüsseln: aber alles Fehlanzeige, hier zählt Handarbeit. Die erledigen wieder die albanischen, rumänischen und bulgarischen Saisonkräfte, derer allein unser Kastanienbauer über 50 jedes Jahr beschäftigt.
Schwein gehabt
Es wird frisch, geht auf sechs Uhr zu, zwischen den Bäumen weht ein kühler, geradezu kalter Wind und treibt Wolkenfetzen umher, es wird Zeit, die Talfahrt anzutreten.
Wir verabschieden uns – und sehen uns kurz darauf wieder. Vor einem großzügigen Haus in Potamia steht wieder der schwarze Pickup. Unsere Waldbekanntschaft winkt uns herbei. In der Einfahrt liegt ein frisch erlegtes Wildschwein, das den beiden auf dem Rückweg vor die Flinte gekommen ist. Während der Coronapause (wo sogar Jagen verboten war) haben die Tiere im Wald geradezu überhand genommen, erfahren wir. Vor uns liegt ein ordentliches Exemplar, seine Hauer lugen gefährlich aus dem blutenden Maul hervor, Vater und Sohn häuten das Tier. Wir bekommen eine Tüte mit einigen Fleischstücken geschenkt, versehen mit der Empfehlung, es gut zu marinieren, Knoblauch und ein Schuss Tsipouro (ein spezieller Tresterschnaps aus der Region) sollen es besonders zart und schmackhaft machen.
Dankend verabschieden wir und, und versichern, nächstes Jahr wiederzukommen, „einfach and der Tür klopfen, wir freuen uns“, laden sie uns ein.
Das machen wir, ganz bestimmt. Wenn die Pilze, die wir mittlerweile gegessen haben, es zulassen.