Spinalonga, die Insel der Aussätzigen

Nach Ende des 30-Jährigen Krieges in Mitteleuropa waren noch viele Söldner übrig – die Fürstenhäuser verkauften sie an die Venetianer, und so gerieten sie von einem Vernichtungskrieg in den Nächsten. Venedigt befand sich mit den Osmanen einem Dauerkonflikt um die Vorherrschaft im mediterranen Raum, und Kreta war hier der Dreh- und Angelpunkt.  Im Krieg hatten neue Methoden der Kriegsführung Einzug gehaten, die in ihrer Art sowohl grausam als auch mühevoll waren. Heftige Stellungskriege tobten um die Festung Iraklio, wo man sich gegenseitig mit „Minen“ und Gegenminen umbrachte. Diese Minen waren Tunnels, die man unter die feindlichen Stellungen grub,  um dort gewaltige Pulverladungen zu zünden. Iraklio fiel 1669 nach sagenhaften 21 Jahren brutalen Stellungskrieges, der auf venetianischer Seite an die 30.000 Menschen das Leben kostete, auf osmanischer Seite sogar über 100.000. Damit war ganz Kreta osmanisch geworden. Ganz Kreta? Nein, würde man in Anspielung auf Asterix sagen.

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Die kleine Insel im Vordergrund ist Spina Longa, rechts davon, am Land, liegt der Ort Plaka

Denn auf einem kleinen Inselchen, keine 8 Hektar groß hielt sich eine Venetianische Festung. Sie wurde Spina Longa  genannt („langer Dorn“), eine Verballhornung der griechischen Bezeichnung („is Elounda“ = nach Elounda). Elounda war eine kleine Hafenstadt, die, seit sich die Küste im Osten Kretas immer mehr senkte hatte, in der Spätantike ihre einstige Bedeutung verloren hatte. Die Felseninsel, auf der die Venetianer ihr letztes Bollwerk ausbauten, lag nur einen knappen Kilometer vor der Küste, dem heutigen Ferienort Plaka. 1715 gelang es den Osmanen jedoch mit viel Pulverdampf die Venetianer auch von dort zu vertreiben.

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Venetianische Festungsbauten von Spina Longa

Die Waffenstillstandsverhandlungen hatten vorgesehen, dass die verblieben Soldaten sowie die Zivilbevölkerung friedlich abziehen durften. Was letztere betraf, hielten sich die Osmanen nicht an die Vereinbarung. Die Zivilsten wurden als Sklaven verkauft. In der Folge siedelten türkische Familien, insgesamt etwa 250 Einwohner, in den venetianischen Festungsbauten an, zwischen denen sie Wohnhäuser, Läden und sogar eine Moschee errichteten. 1898 wurde Kreta selbstständig, unter Schutz sowohl der Hohen Pforte in Konstantinopel als auch des europäischen Protektorates, bevor es 1913 endgültig Griechenland zugeschlagen wurde. In der Folge verließen die meisten Muslime Spinalonga, und die Häuser verfielen langsam.  Neben Kriegen kämpfte Europa noch gegen weiteres Unheil, das man heute schon weit aus den Augen verloren hat: tödliche Seuchen, vor allem auch die Lepra, allgemein als „Aussatz“ bezeichnet. Die hochinfiziöse Krankheit (der Erreger ist ein Mykobakterium)  ließ sich nur eindämmen, indem man die Betroffenen sprichwörtlich „wie Aussätzige behandelte“: sie wurden in Kolonien oder Lagern unter teils unwürdigen Bedingungen isoliert. Dies war praktisch überall in Europa, bis zur Entdeckung der Antibiotika, gängige Praxis. 1903 trat das Gesetz zur Bekämpfung der Leprakrankheit in Kraft, es legte Spinalonga als Verbannungsort kretischer Erkrankter fest, nach 1913 kamen auch Betroffene vom griechischen Festland hinzu.

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Die Reste der türkischen Wohnhäuser auf Spinalonga heute.

Die Versorgung der Erkrankten erfolgte nur notdürftig.  Abgesehen von wenigen Ärzten, Wachpersonal und Bediensteten durfte niemand die Insel betreten oder verlassen. Im Umkreis von 200 Metern war, um Ansteckungen vorzubeugen, nicht einmal der Fischfang untersagt. Etwa 1000 Menschen wurden im Laufe der Zeit nach Spinalonga verbannt. Die Kranken richteten sich in den zurück gelassenen Häusern der osmanischen Bevölkerung ein, es entwickelte sich hier eine abgeschiedene, eigentümliche Gesellschaft nach eigenen Regeln. Erst in den 1930er Jahren änderten sich die unwürdigen Zustände langsam. Der griechische Staat errichtete auf der Insel einfache Krankenstationen, die medizinische Versorgung verbesserte sich etwas. Die Verbannten gründeten einen Interessensverein, die „Bruderschaft der Leprakranken von Spinalonga“. Auch ihre Aktivität führte langsam zu weiteren Verbesserungen, und, als sich die Antibiotika-Therapien durchsetzten, wurde die Leprastation Anfangs der 1950er Jahre geschlossen. Die Gebäude verfielen bis in die 1970er Jahre.  1972 kamen Pläne auf, die Insel in einen eine Marinestützpunkt umzuwandeln. Das konnte verhindert werden, das Gelände wurde statt dessen als Landschaftsschutzgebiet ausgewiesen. 1976 erhielten die Gebäudeensemble den Status einer „Archäologischen Stätte“. Seit einigen Jahren ist der Ort eine beliebte Touristenattraktion. Die teils stark verfallenen Gebäude werden behutsam stabilisiert, eine einzelne Zeile hat man sogar rekonstruiert. In vielerlei Hinsicht erinnert die Anlage nun an ein modernes Pompeji, nur dass die erhaltenen Relikte, von den imposanten Resten der venetianischen Bastion, den türkischen Wohnhäusern bis hin zu den Krankenhausbauten der 1930er Jahre, weitaus jüngeren Datums sind.

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Das „moderne“ Krankenhaus aus den 1930er Jahren

Besonders in den Sommermonaten legen halbstündlich Boote von Plaka und Elounda zur Insel ab, und es ergießen sich Touristenströme aller Nationen in die felsige Ruinenlandschaft. Populär geworden ist Spinalonga durch den Roman „The Island“ von Victoria Hislop, der in mehrere Sprachen übersetzt und für das britische Fernsehn verfilmt wurde (Deutsch: Insel der Vergessenen, 2006).

Um die Insel zu besuchen, empfielt es sich, den kleinen Küstenort Plaka anzusteuern. Hier findet man übrigens, trotz des zunehmend touristischen Charakters des Ortes, immer noch gute und preiswerte Unterkünfte, der Strand läd zum Baden ein, und als gastronomische Empfehlung wäre die „Marias Taverne“ von 1930 zu empfehlen, wo es gute, traditionelle kretische Küche geboten wird (ohne lästige „Yesplease“-Anmache).

Es empfielt sich durchaus auch ein Abstecher von Plaka aus in die westlich gelegenen Berglandschaft. Die Felsen sind karg, es gibt nur wenig Vegetation, die Natur hat sich an die hier vorherrschende Trockenheit angepasst. An den steil aufragenden Bergkämmen tobt meistens ein recht heftiger Wind, was im Sommer durchaus erfrischend ist. Den Wind machen sich heute moderne Windkraftanlagen zu nutze, bei denen man sich fragt, wie die riesigen Masten und Turbinen wohl auf den Berg hinauf transportiert worden sind, denn die Straßen sind eng und kurvenreich. Bei dem Ort Vrouchas kann man noch gut erhaltene Windkraftanlagen des 19. Jahrhunderts bewundern. Die in Wind richting runden, nachhinten sich verbreiternden Türmchen stehen in einem Spalier nebeneinander, sie tragen hölzerne Flügelräder, die bei Bedarf mit Segeltuch bespannt werden konnten. Neben Getreide (das die Bewohner hier nicht anbauen konnten, sondern importierten), produzierten die Mühlen hier das einzigen Agrarerzeugniss her, das man dem Land abringen konnte: Olivenöl.